ALLRICH

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Oberschlesien – Deutsches Land

 

Eine Sommerreise im September 2002

Görlitz

Immer wieder hat man uns gewarnt:

Geht nicht nach Oberschlesien. Dort wohnen Polen. Die warten nur auf eine Gelegenheit, euch zu beklauen. Die stehlen alles, was sie kriegen können, selbst die Reifen von Eurem Auto ......

Aber warum sollten wir nicht nach Oberschlesien gehen? Oberschlesien ist  deutsches Land. Ach ja – natürlich – Oberschlesien ist auch besetztes Land!

Wir sind  in Oberschlesien geboren, auch unsere Eltern und Großeltern und all unsere Vorfahren.  Dort ist  unsere Heimat, unser Elternhaus, unser Garten, in dem   unsere Eltern die Bäume gepflanzt haben. 

Also, wir fahren. Es ist fast noch Nacht, noch dunkel, aber ein Sonnentag kündigt sich an.

Wir nähern uns langsam einem Grenzübergang, einer Grenze mitten durch Deutschland. Wir fahren über eine kurze Brücke, darunter rinnt ein schmaler Fluß, spärlich mit Wasser gefüllt. Ein kleines Schild am Rande belehrt uns: Es ist die Neiße, ein Name, der  durch diese unnatürliche Grenze eine traurige Berühmtheit erlangt hat.  

Deutscher Grenzschutz erscheint: Ihre Pässe bitte.

Fünf  Meter weiter erneuter Stop. Polnische Grenzpolizei. Aus einem Fenster steht eine wartende offene Hand. Wir legen die Pässe hinein. Hier dauert es länger. Ein Gesicht erscheint. Ein Augenpaar, fast verdeckt unter der großen Uniformmütze, mustert unser Auto. Wir erhalten die Pässe zurück. Die Hand erscheint wieder, winkt uns weg.

Wir müssen kurven. Erneuter Halt: Haben Sie was anzumelden? Ihre Auto - Versicherungskarte bitte.

Der Schein einer Taschenlaterne durchleuchtet das Innere des Autos.

Wir haben ein Gefühl wie damals, als die andere Grenze noch bestand – die Mauer.

Dann endlich dürfen wir fahren. Es wird heller, der Himmel färbt sich violett. Das Bild hat sich grundlegend geändert, es ist, als läge  Verwesung über dem Land.

Noch brennen einige Straßenlampen. Die Straße ist voller Schlaglöcher. Wir müssen langsam fahren, zuweilen schlägt der Wagen an bis auf das Bodenblech.  Zu beiden Seiten stehen mehrstöckige Häuser, viele der Fensterhöhlen sind leer, zuweilen sieht man noch  Glasreste. Die Haustüren hängen schief in den Angeln, hohes Unkraut wächst in den Eingängen. Ein großes Eckhaus  im Gründerstil taucht auf wie ein Schatten,  das Dach ist eingestürzt. Rechts breitet sich ein verwüsteter Park. Der hohe schmiedeeiserne Zaun ist der Länge nach umgefallen. Unkraut hat den Rost überwuchert.

Wir sind in  Schlesien, in Görlitz oder besser: in dem Teil von Görlitz, der von den Polen abgeschnitten wurde.

Allmählich wacht die Stadt auf. Autos überholen uns. Blech schreit,  Auspuffe qualmen, Menschen mit grauen Gesichtern erscheinen an den Straßenrändern.

Straßen

Wo geht es weiter? Nirgends ist ein Hinweisschild, kein polnisches, geschweige, ein deutsches. Wir müssen, so gut es geht,  mit unserer deutschen Autokarte zurechtkommen und bewegen uns  auf einer unseren Bundesstraßen vergleichbaren Straße. Der Straßenverkehr nimmt stetig zu, meist sind es  Laster, Traktoren und Fahrräder, die daherkommen. Wir fahren in Zeitlupe. Eine Baustelle verlangsamt weiterhin das Tempo. Ab und zu  sehen wir Bauarbeiter, die mit Sand und Steinen gefüllte Schubkarren  vor sich herschieben, und andere Arbeiter knien auf der Straße, um  die Schlaglöcher  mit dem herangefahrenen Material auszubessern.

Ein Schild in polnischer Sprache zeigt nach links. Das muß der Hinweis zur   einzigen Auffahrt der  einzigen hiesigen Autobahn sein. Nun wird es flotter gehen, hoffen wir. Es ist noch ein ganzes Stück zu fahren.

Später. Schon über eine Stunde sind wir auf der  Autobahn. Die Sonne hat ihre Himmelsreise angetreten, wir fahren ihr entgegen.

Um die tiefsten Schlaglöcher zu vermeiden, in denen man die sprichwörtlichen Kochtöpfe  versenken könnte,    halten wir  uns wie die anderen  auch auf der linken Seite der Fahrbahn. Wenn wir ein Fahrzeug überholen, weicht dieses kurzfristig nach rechts aus, um sogleich  wieder hinter uns einzuscheren. Aber auch auf der linken Seite ist es schlimm genug. Immer wieder werden wir durchgeschüttelt, als ob wir uns auf einer Teststrecke bewegen.

Dennoch: Diese Autobahn ist vor dem Krieg von Deutschland gebaut worden, seitdem haben keine Reparaturen mehr stattgefunden. Ist es nicht wie ein Wunder, daß diese 'Reichsautobahn'  überhaupt noch zu befahren ist?

Es ist Mittag. Urplötzlich wird die Fahrbahn besser. Wir sehen gerade noch im Rückspiegel die bis jetzt einzigen deutschen Worte  auf einer Hinweistafel: Hier baut die Deutsche Asphalt...

 

Straßen, die nach Deutschland führen, tragen ein polnisches Hoheitszeichen. 
Deutsche Straßennamen sind verboten.

 

Breslau

Nun haben wir glatte Fahrt bis einige Kilometer über das Autobahnende hinaus. Bald erreichen wir Breslau. 

BRESLAU, die alte deutsche Stadt, die ihre Einwohner austauschen und ihren Namen ändern mußte.....

Kann sich  jemand vorstellen, daß die Bewohner  von London oder New York, von  Hamburg oder Berlin ihre Stadt verlassen müssen, um  Fremden Platz zu machen?  Daß in Bremen, Hannover oder Düsseldorf  an einem Tage sämtliche  Straßenschilder abgerissen werden, um durch andere ersetzt zu werden? Daß die Weser, der Rhein, die Mosel ab sofort völlig anders heißen? Daß die Einwohner von Niedersachsen in ihrem eigenen Land zu 'Minderheiten' zusammenschrumpfen?

Uns wird schwindlig vor den Toren von Schlesiens Hauptstadt Breslau.

Was ist eigentlich los mit den deutschen Politikern? Einst  haben sie tatenlos zugesehen, wie  in Friedenszeiten deutsche Familien auf deutschem  Boden von  Fremden   mißhandelt und  davon gejagt wurden. Anschließend  haben sie weggeschaut, wie die noch verbliebenen Deutschen  mit Gewalt  polonisiert wurden, indem man ihnen bei Strafe der Gebrauch  ihrer Muttersprache DEUTSCH untersagte.

Zugegeben: Damals mögen die deutschen Volksvertreter unter ausländischem Druck gestanden haben.

Hat aber auch Kohl, der 'Kanzler der Einheit', unter Zwang gehandelt, als er  die Oder-Neiße-Linie als 'endgültige' Grenze zwischen Deutschland und Polen bestätigte? Die Niederschriften über die dem sog. Einigungsvertrag vorhergehenden Verhandlungen werden bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten. Warum?

Und was ist  mit Kanzler Schröder?

Was tut dieser für die  noch immer von den Besatzern drangsalierten oberschlesischen Deutschen? Nichts! Hat er je die Wiedervereinigung Ostdeutschlands mit dem Vaterland auch nur angesprochen? Niemals. Steht auch er unter Druck von außen??

Aber  wir schweifen ab. Zurück zu  Breslau.

Freunde von uns haben kürzlich ihre Breslauer Verwandten besucht und sind schon nach wenigen Tagen völlig deprimiert wieder heimgekommen. Breslau sei zwar die Vorzeigestadt der Besatzer wie einstmals  Ost Berlin. Darum werde im Breslauer Stadtzentrum mehr als anderswo investiert. Nichts aber werde für die wenigen noch in Breslau verbliebenen Deutschen getan, die  meist  unter erbärmlichen Umständen dahinvegetieren.

 Es ist eine Schande, der Zustand unserer Verwandten in Breslau  wird immer unhaltbarer - man müßte den deutschen Bundeskanzler zwingen, sich vor Ort von den Zuständen zu überzeugen. Das waren ihre Worte.

Wir haben versucht, unsere Freunde zu trösten und uns dabei   den Bundeskanzler vor Ort vorgestellt. Haben wir das deutsche Staatsoberhaupt nicht gerade bei der Flut-Katastrophe gesehen? So schön malerisch einmal mit und dann wieder ohne Gummi Stiefel – im Hintergrund ein bißchen Wasser – viele Kameras – große Versprechungen, aber  alles nur kurz vor der letzten Wahl.....

Unsere Fahrt geht weiter, bald müssen wir die Autobahn verlassen und befinden uns wieder auf den Landstraßen.

Katscher

Die Sonne steht nun hoch am Himmel. Oberschlesien begrüßt uns mit lang gestreckten Hügelketten. Die Straße führt wie eine gerade Linie durchs Land. Rechts und links stehen noch alte Obstbäume. Die Felder aber unserer ehemaligen deutschen Kornkammer sind leer.  Nur ab und zu wächst etwas  Mais., die Pflanzen gerade mal hüfthoch und die Früchte klein. Überall ausgezehrter, jahrelang vernachlässigter Boden.

 

Ausgelaugte Felder bei Ratibor

 

Bald passieren wir die Stadt Oppeln, kurz danach Leobschütz und Ratibor.

Und dann erreichen wir die Heimat, Katscher, eine  schmucke Bilderbuch - Kleinstadt mit weiß getünchten Häusern und gepflegten Gärten, mit fleißigen  Einwohnern von meist bäuerlicher Abstammung und mit einer kleinen, aber gut ausgebauten Industrie.

So jedenfalls haben wir die Heimat in Erinnerung. Und was zeigt sich uns heute im Jahre 2002?

Langsam fahren wir die einzige Hauptstrasse entlang. Die Bäume zu beiden Seiten fehlen.

Wir fahren auf dem nur dürftig ausgebesserten Straßenpflaster bis zum ehemaligen Marktplatz, und dann zurück,  und noch einmal hin und noch einmal zurück.....

Sind wir  richtig hier?

Langsam wird das, was wir sehen, zur Wirklichkeit:

Noch steht die Kirche. Ende Mai 1945, also lange nach Kriegsende, ist sie, vollbesetzt mit Frauen und Kindern, während eines Dankgottesdienstes von Russen und Polen angegriffen worden. Ein Blutbad wurde angerichtet, die Überlebenden vergewaltigt und dann auch erschlagen.

Die Kirche von Katscher

 Alle ehemaligen Straßenschilder sind weg. Zuweilen  sieht man noch die Stellen, wo sie einst angebracht waren, bevor sie abgeschlagen wurden.  Hier und da hängen  Straßenschilder mit polnischen Namen, grau, ungepflegt und verwaschen.

Die einst hübschen Einfamilienhäuser und  Höfe sind, soweit überhaupt noch vorhanden, verfallen oder mit grauer Zementfarbe überstrichen. Viele Häuser von Bekannten stehen nur noch als Ruinen, überwuchert von Gras und Gestrüpp.    

Ehemaliger deutscher Gutshof in Katscher

Das Denkmal an der Kirche, die große Bronzegestalt eines unserer Vorfahren, hat keinen  Kopf, die Inschrift ist herausgeschlagen. Auch das Denkmal für die deutschen Kriegsgefallenen hat keine Inschriften mehr. Nur vor dem ehemaligen Gemeindehaus steht noch das kleine Denkmal auf dem Podest,  der   schmiedeeiserne umgebende Zaun aber hängt verrostet in den Stützen, das Unkraut ist höher als der Sockel.

Wir passieren eine große Straßenkreuzung, während der Wagen unwillig durch die Schlaglöcher ruckelt. Rechts stehen zwei Eckhäuser. Das eine Haus war damals ein Einkaufsplatz, ein riesiger Tante Emma Laden, wo es alles gab. Das andere Haus war das Café, ein beliebter Treffpunkt der Bevölkerung. Weder der Laden noch das Café haben die neuen Verhältnisse überstanden:

Das Dach des Ladens ist eingestürzt. Aus der Dachöffnung ragt der derzeitige Hausherr mit seinem Wipfel hervor, ein Baum,  dessen grüne Blätter den betrüblichen Anblick ein wenig mildern. Bei dem Einsturz ist die eine Seite des daneben stehenden Cafés schwer beschädigt worden, dennoch ist dieses von einigen Menschen bewohnt, die im Eingang stehen  und uns mit grämlich-mißtrauischen Mienen beobachten. Der deutsche Name des Cafés über dem Eingang ist vor langer Zeit übergemalt worden. Die Farbe ist inzwischen ergraut.

Das ehemalige Gemeindehaus von Katscher. es wurde von Polen in Brand gesetzt.

 

Langsam fahren wir an der ehemaligen Fabrik vorbei. Die Sonne leuchtet durch die Skelette der Gebäude. Nur Ruinen, soweit man sehen kann. Wo früher der Eingang war, wachsen jetzt Bäume,  Unkraut und Strauchwerk sprießen  aus allen Fensterhöhlen. Augenscheinlich wird hier nichts mehr produziert.

 

Fabrik von Katscher

Dann haben  wir endlich das Haus der Eltern gefunden, das gleiche Bild: Überall ist der Putz in großen Stücken abgefallen und die  Mauern  sind  mit schmutzig-grauem Zement bedeckt. Die Dachrinne hängt an verschiedenen  Stellen  herunter, so daß das Regenwasser  an den Hauswänden schwarze Bahnen bis auf den mit Unkraut bedeckten Boden ziehen konnte. Die Fensterrahmen aus Eichenholz sind verschwunden, sind, wie wir später hörten, zusammen mit den Türen und der einst prächtigen Treppe verheizt worden. Eine Reihe der Fenster sind mit  Sperrholzplatten vernagelt. Als Ersatz für die fehlende Treppe steht vor dem Haus  eine Leiter.

 

Ehemaliger deutscher Bauernhof in Katscher

Auch hier haust jemand: Einen Spalt breit öffnet sich die noch vorhandene  Haustür, ein mürrisches Gesicht erscheint, ruft etwas in den dahinter liegenden Raum, dann sind es zwei mürrische Gesichter, die all unsere Bewegungen mit  drohendem  Schweigen verfolgen. 

Und was ist mit unserem einst so prachtvollen Garten? Der Boden ist mit Ascheresten, ausgebrannter Kohle und Schuttgeröll platt gewalzt. Wo einst Bäume, Blumen und Gemüsepflanzen  wuchsen, siechen Autowracks ihrer endgültigen Verrottung entgegen.

Wir besaßen noch ein anderes Haus.  Hier kann man  noch die  Einschußlöcher der Kugelsalven sehen, mit denen die Polen nach Kriegsende auf die zurück gebliebenen deutschen Frauen und Kinder geschossen haben. Das Haus hat ein neues Dache, aber  eines aus Wellblech. Das große Tor zum Hof steht noch, die  Metallteile  jedoch sind verrostet,  die Farbe ist verschwunden. Nur die  Scheune dahinter ist noch so, wie wir sie in Erinnerung haben.

Die Häuser der ehemaligen Nachbarn:  vergammelt und verludert. Hier ist eine Außenmauer ist heraus gebrochen, so daß die Innenwände sichtbar werden. Dort sind die Fenster nur noch mit Holzlatten verschlossen. Woanders hängt wieder eine Haustür  schief in den Angeln, darüber neigt sich eine  Satellitenantenne bedrohlich der Erde entgegen. Überall liegt herab gefallener  Putz herum. ...

Und in jedem der Häuser  wohnen Fremde, die uns von weitem mit verdüsterten Blicken mustern. Ahnen sie, wer wir sind? Schuldgefühle? Ein böses Gewissen?

Eigentlich wollten wir noch zum Friedhof fahren und die Gräber unserer Vorfahren und Familienangehörigen besuchen. Aber da hat uns  schon vorhergesagt: Alle Grabsteine sind entfernt und auf den Müll geworfen, alle Gräber sind platt gewalzt, den alten deutschen Friedhof gibt es nicht mehr. Offenbar waren auch die toten Deutschen in Katscher den Neuankömmlingen ein Ärgernis.

Wir hatten eigentlich geplant, einige Tage in der Heimat zu bleiben, aber wo? Es gibt weder ein Gasthaus noch ein Hotel. Und: Wir haben genug gesehen von der besetzten Heimat, vom besetzten Land.

Die Besatzer jedenfalls sind ihres Raubes nicht froh geworden. Vielleicht wissen sie, daß die Zeit keinen Stillstand kennt,  daß eines Tages ein neues Kapitel aufgeschlagen werden wird in der oberschlesischen Geschichte.

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