Rückkehr nach Schlesien

 

K r e u z b u r g

 

Marktplatz

 

 

 

Kreuzburg, Rathaus, alte Postkarte

aus: http://www.vogel-soya.de/bilder/Schlesphoto.html

 

Es ist Mittag.

Auf dem Marktplatz zu Kreuzburg in Oberschlesien drängt sich unter den wenigen schattenspendenden Bäumen alles Lebende zusammen. Es ist schön, auf einer solchen Schattenbank zu sitzen, wenn auch die vier alten Polinnen neben mir immer wieder dreiste, wortlose Versuche unternehmen, mein  schmales Bankende noch weiter zu verkleinern.

 

Unter einem der Nachbarbäume hantieren sechs polnische Arbeiter, offenbar mit der Aufgabe betraut, ein Stück Erdreich von seinen Trümmern zu befreien und es anschließend mit Pflastersteinen auszulegen. Von längeren Pausen unterbrochen, tragen immer je zwei der Männer ein Trümmerteil von dannen, um es in einem mitgeführten Karren abzulegen. Zwei weitere Männer bringen dann von einem anderen Gefährt als Ersatz einen Pflasterstein herbei. Die beiden noch verbleibenden Arbeiter stehen beiseite, beobachten das Geschehen und überwachen die Verteilung der mitgebrachten Flaschen.

 

In einem der vielen verfallenden Bürgerhäuser ringsum ist meine Großmutter geboren worden, die Enkelin des Görlitzer Bürgermeisters. Da die Familie schon  bald nach der Geburt der kleinen Tochter weggezogen ist, konnte mir meine Großmutter ihr Geburtshaus nicht genau beschreiben. Irgendwo hier in der Nähe aber muß es gewesen sein, heute vor genau 80 Jahren, 3 Monaten und 23 Tagen, in einer Zeit, als Arbeiter, welche Pflastersteine trugen, und als Frauen, welche über Mittag auf den Bänken des Marktplatzes saßen, als all diese noch meine Sprache redeten.

 

Kirchplatz

 

Backsteinrot, schwer und gedrungen steht etwas abseits vom Markt die ehemalige evangelische, nun aber wie alle schlesischen Kirchen rekatholisierte Stadtkirche Kreuzburgs. Hier heirateten meine Großeltern. Hier wurde meine Großmutter getauft.

 

Der Vorplatz der Kirche ist überschattet vom Laub alter Ahornbäume. Unter einem dieser Bäume steht eine steinerne Säule, deren Zweck es einmal gewesen ist, mit einem eingemeißelten Dichterspruch die Vorübergehenden aus ihren Alltagsgedanken herauszulocken. Dieser Zweck hat sich derzeit erledigt, denn es gibt kaum noch jemanden, der hier vorübergeht. Es ist still unter den alten Ahornbäumen Kreuzburgs, still und leer von Menschen. Überdies sind die Worte des Spruches, obwohl sie von der neuen Bevölkerung Kreuzburgs ohnehin nicht verstanden würden, mit einem harten Gegenstand zerstört. Nur zwei Dichterworte   sind  noch zu erkennen: "Hoffnung"  und  "Wiedersehen".

 

Der Spruch könnte von Gustav Freytag stammen, dem schlesischen Dichter, der hier in Kreuzburg geboren wurde, dessen Gedenkbrunnen zwar aus der Stadt fortgeräumt worden ist, dessen Bücher aber noch immer in der Bibliothek der Breslauer Literaturprofessorin stehen, z. B. das Bild vom Leben im alten Schlesien: 

 

Soll und Haben.

 

 

 

alte Postkarte

aus: http://www.vogel-soya.de/bilder/Schlesphoto.html

 

Eine der Kirchentüren steht offen. Durch ein Gitter hindurch kann man in einen Seitenraum der Kirche, in eine Art Pfarrbüro schauen. Vor einer getäfelten Holzwand steht ein großer schwerer Schreibtisch.   Über dem Schreibtisch hängt ein altersdunkles Kruzifix. Hier wurde nichts zerschlagen, nichts fortgeräumt, auch nichts hinzugefügt. Und auch der leidende Gottessohn an seinem Kreuz ist offenbar nicht genötigt worden, seine heilenden Absichten allein den Katholiken polnischer Zunge vorzubehalten. Es ist noch immer das Büro des deutschen evangelischen Pastors von Kreuzburg. Er scheint nur eben einmal hinaus gegangen zu sein.

 

Für Augenblicke ist es mir, als hätte ich hier auf diesem mittagsstillen Kirchplatz in Kreuzburg etwas vom alten Schlesien gefunden, von Schlesien, so, wie es war.

 

Hier auf dem Kirchplatz in Kreuzburg könnte man meinen. daß der Lebensstrom Schlesiens in Wirklichkeit nicht  abgebrochen worden ist. Man könnte glauben, daß er nur vorübergehend ruht, um irgendwann in seiner alten Form wieder aufgenommen zu werden.

 

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