Maria Schmidt

 

R Ü C K K E H R  N A C H  S C H L E S I E N

 

Reisebericht der Studentin Marianne Grüttner aus dem Jahre 1993

 

S c h l e s i e n  u n d  d i e  D e u t s c h e n

 

"Was fällt Ihnen ein beim Stichwort "Schlesien" ?"

Bevor ich nach Schlesien aufbrach, habe ich erst einmal meine Mitdeutschen nach ihren Vorstellungen von "Schlesien" gefragt. Diese Mitdeutschen malten mir von Schlesien folgendes Bild:

 

"Schlesien ist meine Heimat," sagte ein grauhaariger  Vertriebener, der einstmals in Niederschlesien einen Bauernhof besaß.

"Aber die Heimat ist zerstört, mir fortgenommen. Es gibt  niemanden auf der Welt, der stark und mutig genug wäre, mir meine Heimat zurückzugeben."

Der resignierte Schlesier hat es in Westdeutschland  nicht zu einem neuen Bauernhof gebracht. Aber er besitzt  hier ein geräumiges Haus mit einem gepflegten Garten.

"Für meine Kinder ist Schlesien kein Thema mehr. Leider."

 

"Schlesien. Ach Schlesien. Flucht im Viehwagen bei 20* Kälte. Als Kind habe ich das alles mitgemacht. Nicht mehr daran denken. Aus. Vorbei.

Waren ja selbst schuld, die Deutschen in ihrem Größenwahn.....".

Der Befragte stammt aus Oberschlesien. Er bekleidet nun ein gut bezahltes Amt in der Verwaltung des Landes Niedersachsen.

Seine Stellungnahme schloß er so:

"Nur in einem Falle könnte Schlesien für mich wieder interessant werden: Wenn all der verlorene Besitz  doch noch einmal zurückgegeben würde. Wir hatten  in Gleiwitz mehrere Häuser."

 

"Schlesien? Gehen Sie mir weg mit diesem Schlesien. Es wird höchste Zeit, daß die Berufsvertriebenen aussterben. Dann erst haben wir  hier endlich Frieden."

Das ist die Aussage eines  westdeutschen Nachkriegsjournalisten im Ruhestand, der seines fortgeschrittenen Lebensalters wegen diesen herbeigewünschten Frieden  jedoch nicht mehr erleben dürfte.

 

"Schlesien? Das sind Gedichte von Eichendorff. Das ist heimeliges, verwunschenes Leben. Das ist Wald, Himmel. Das sind runde Bergeskuppen. Ich sehe die Weite der Oder vor mir, die Züge der Sudeten. Ich habe mich viel mit Schlesien beschäftigt, mit unserem für immer verlorenen Schlesien."

So sagte ein Germanist aus dem Rheinland, einstiger  DDR- Flüchtling, in dessen Sprachmelodie noch immer Spuren seiner mitteldeutschen Herkunft auszumachen sind.

 

"Schlesien? Was mir da einfällt? Da fällt mir gar nichts ein. Oder doch: Auschwitz.

Außerdem interessiere ich mich nicht für Schlesien. Ich interessiere mich für Afrika und für die Südsee, der Fische wegen."

Das war ein umtriebiger  Zierfischhändler, dessen Lebensmuster gelegt wurde in den Schwarzmarkttümpeln der Nachkriegszeit .

 

Eine Münchner Ärztin reagierte auf das Stichwort "Schlesien" so:

"Alte Heimat. Schade, daß es sie nicht mehr gibt. Schade, daß die freundlichen alten Schlesier mit ihrem  Mutterwitz nun aussterben."

 

"Daß du an Schlesien denkst, stört mich. Dieses Schlesien liegt zwischen uns  wie etwas Unheimliches, Drohendes.  Ich spüre, wie mir der Haß  aus diesem Lande entgegenkommt, der Haß und die Gewalt."

"Meinst du den Haß und die Gewalt der Polen?"

"Nein, ich meine den Haß und die Gewalt der ewig gestrigen Deutschen."

Das sagte mir ein Freund aus dem Schwarzwald, Musiker, Cellist von erlesenem Können.

 

"Schlesien gibt es heute nicht mehr. Es ist ein Teil von Polen. Wer heute noch Schlesien sagt, meint Krieg. Bitte, es tut mir weh, darüber zu sprechen."

So ein  evangelischer Pastor aus Schwaben, welcher bei der Unterbringung und  der sozialen Eingliederung von Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorragende Arbeit leistet.

 

"Schlesien? Da fallen mir Gurken ein. Außerordentlich lecker."

Ein norddeutscher Student für Maschinenbau.

 

"Meine Freundin kommt aus Schlesien. Ist froh, daß sie nicht mehr dort ist. Ist schöner hier!"

Ein junger Geschäftsmann aus der Pfalz.

Weiter sagte er:

"Und außerdem, der Hitler hat ja schuld. Hätte er in Rußland nicht so menschenverachtend........"

"Aber was hat das mit Schlesien zu tun?"

"Was das mit Schlesien zu tun hat? Ach, ich mag nicht darüber reden."

 

Ein 18-jähriger Gymnasiast, als er zum ersten Male einen Bildband von Schlesien anschaute, bemerkte verblüfft:

"Da stehen ja deutsche Namen an den Geschäften. Das war ja mal deutsch!"

 

Ca.14- jährige Jugendliche sahen es so:

"Schlesien? Das ist doch Polen." Nach einigem Besinnen:

"Aber es war mal Deutschland." Schließlich: "Mein Opa kommt daher". --" Meine Oma auch."

"Wir haben noch Bilder zuhause von Schlesien."

 

Das ist das Bild der Deutschen von  Schlesien:

Schlesien ist ein verlorenes Land.

Warum?

Weil wir den Krieg verloren haben.

Schlesien ist ein verbotenes Land.

Weshalb?

Wegen der "Deutschen Schuld".

Schlesien müssen wir abschreiben.

Wieso?

Es wohnen nun andere dort.

 

Merkwürdig, daß ich trotz dieser allseitigen Abkehr der Deutschen von ihrem Schlesien  Lust habe, dorthin zu fahren. Oder ist mir gerade deswegen die Lust dazu gekommen?

 

Verlorener Krieg!

Ich lese immer wieder von Völkern, die auch nach verlorenen Kriegen den Mut aufbrachten, das, was man ihnen weggenommen hatte, zurückzufordern. Und ich lese sogar von Völkern, welche ihren Mut mit Beharrlichkeit verbanden und das Verlangte schließlich wieder zurückgewinnen konnten.

 

"Deutsche Schuld"!

Seit Kriegsende wird behauptet, das Weltböse habe von nun an seinen Sitz  im Volke der Deutschen und jeder einzelne Deutsche sei zwangsläufig davon durchtränkt.

Was für ein gelungener Trick der Sieger dieses Krieges, die geschundenen Ostdeutschen so zu verstören, daß sie an das, was ihnen angetan wurde, nicht mehr zu rühren wagen, ja, daß sie all das Schreckliche, was sie erlebt haben, gar noch für rechtmäßig und verdient halten und keine Kraft mehr aufbringen, Genugtuung zu fordern.

Was für eine großartige Ausrede der heimatverbliebenen Deutschen, sich beispielsweise Schlesiens wegen keine Unbequemlichkeiten mehr zu  verursachen.

 

Andere wohnen nun dort!

Aber es sind andere, die einfach hineingedrückt worden sind in ein ihnen fremdes Land. Können denn diese in Schlesien wirklich zuhause sein?

 

G r e n z s t a d t  G ö r l i t z

 

Görlitz liegt an der Neiße. Hier ist einer meiner Ururgroßväter einmal Bürgermeister gewesen und hat im Laufe seiner Amtsführung eine Halle zum Ruhme großer Deutscher bauen lassen.

 

Nun ist Görlitz eine geteilte Stadt, d.h., Görlitz ist wie alle anderen Städte an den derzeitigen deutsch - polnischen Grenzflüssen auseinandergerissen in einen deutschen und einen polnischen Teil. Der von Bomben unzerstörte Stadtkern von Görlitz liegt am westlichen Neißeufer, ist also deutsch geblieben. Das polnische Görlitz, nun behaftet mit einem  für unsere Zungen unaussprechlichen Namen, besteht unter Einschluß  der zum polnischen "Kulturpalast" umgewandelten ururgroßväterlichen Ehrenhalle nur aus Vorstädten und Schrebergärtenkolonien.

 

Auch der  Görlitzer Bahnhof ist deutsch. Für Paß - und Zollkontrolle aber ist den Polen  die dem Zuge zugewandte Längshälfte eines Bahnsteiges überlassen worden und durch hohe Metallgitter von der deutschen Bahnsteighälfte getrennt.

 

Unser Zug hält lange. Je nach Alter, Herkunft und Gemütsbeschaffenheit drücken sich die Schlesienreisenden entweder ergeben in ihre Sitze oder lehnen sich begierig aus den Zugfenstern hinaus.

Zu beiden Seiten des  Gitters, an ihren Uniformen kaum zu unterscheiden, stehen sich  in dichten Trauben Grenz - und Bahnbeamte beiderlei Nationalität   gegenüber. Ohne sich durch ihre Verschiedensprachigkeit irritieren zu lassen, gestikulieren und debattieren sie  durch die metallene Trennung hindurch  feindselig aufeinander ein. Es geht in diesem Falle um den Verbleib eines nicht uniformierten polnischen Staatsbürgers, welcher offenbar auf widergesetzliche Weise versucht hat, vom Polnischen ins Deutsche hinüberzuwechseln. Gewaltsam von der gemischtnationalen Beamtenschaft in seinen ursprünglichen Hoheitsbereich zurückbefördert, steht dieser nun in Abwartung des Kommenden an den Metallzaun gelehnt, ein Bild geduckter, von den ihn umgebenden Verhältnissen unbeeindruckter Entschlossenheit.

 

Schließlich sind die Grenzformalitäten erledigt. Der Zug  fährt an. Gemächlich schwankend rollt er ins Polnische hinein.  Als letztes Zeugnis deutscher Souveränität grüßt von einem Betonpfeiler  ein verschlissener Aufkleber: "Unsere Heimat Schlesien. Einladung zum diesjährigen Schlesiertreffen in Nürnberg."

 

L a n d

 

Flach ist sie nun vor mir ausgebreitet, die Heimat Schlesien, bedeckt von den durchsichtigen Schleiern des Sommers. Die Wiesen, alle wild wuchernd, sind ohne Zäune, ohne ein einziges Stück Vieh. Das Korn ist schütter, von Grünem durchsetzt. Wie Schatten ziehen Buschgruppen vorbei und verstreute kleine Waldesflecken. Über den wenigen Zeugnissen menschlichen Tuns brütet  Lustlosigkeit,  von niemandem aufgehaltener Verfall.

 

Gelegentlich hält der Zug. Die   Mauern der ehemals stattlichen, oftmals geradezu prunkvollen Bahnhöfe sind  rußgeschwärzt, die Fenster blind oder zerbrochen. Die Ortschilder tragen  fremde Namen.

 

Das Land erscheint leer, noch immer wie erstarrt durch das Grauen, das einst darüber hinweggegangen ist.

 

G r a u e n

 

Es ist  das Grauen, welches unser Schlesien verwandelt hat in das Schlesien, wie es sich heute zeigt.

 

Ich sitze allein in meinem Zugabteil und fahre das erste Mal durch Schlesien.

Ist es gut, daß dieses Grauen mich nun anfaßt? Daß ich das sich nähernde Toben des Krieges höre, daß ich die Kälte spüre, die Schlesien versteinern ließ im Januar vor 48 Jahren? Daß  die Angst der damaligen Menschen durch mich hindurchgeht, als sei es meine eigene, die Angst der Menschen, denen keine andere Wahl blieb als aus ihren Wohnungen, ihren schützenden Dörfern und ihren Städten hinauszufliehen in den hartgefrorenen Schnee?

 

Ich sehe den Blick der alten Bauern, mit dem sie ihre Höfe, ihr Land ein letztes Mal umfaßten, ehe sie fort zogen, um nie mehr zurückzukommen.

Ich fühle die Verzweiflung der jungen Frauen, mit welcher sie die Pferde vor den schwer beladenen Fluchtwagen anzutreiben versuchten. Ich spüre die Erschöpfung der Tiere, für die es kaum noch Futter gab.

Von Müttern habe ich gehört, die während der Flucht ihre kleinen erfrorenen Kinder vor die Altäre von Dorfkirchen legen mußten, weil es unmöglich war, Tote in der zu Stein gewordenen Erde zu begraben.

Und Frauen sehe ich dann, Wehrlose, über die der Feind gekommen war. Tausende von Frauen.

Halbwüchsige schauen mich an mit fahlen Gesichtern, die, um nie mehr zurückzukehren, von den Russen fortgeschleppt wurden wie Sklaven, wie Vieh.

Aus den zahllosen Lagern, welche die den Russen folgenden Polen  dann für die Deutschen in Schlesien eingerichtet haben, höre ich in Todesangst Menschen schreien, Menschen, auf welche  die Lagerwärter so lange einschlugen, bis die Schreie leiser wurden, bis sie für immer verstummten.

 

Von all diesem habe ich bisher nur gewußt, habe es aber nie wirklich in meine Gedanken hineingelassen. Jetzt, da ich zum ersten Male durch Schlesien fahre, ist es mir, als ob ich all dieses Grauen, dieses in seiner Grausamkeit eigentlich nicht Vorstellbare in mich aufnehmen muß, weil es zu Schlesien gehört, weil es der Grund ist, auf dem das heutige Schlesien  steht.

 

S c h m e r z

 

So ist es doch gut, daß die Verzweiflung dieses Landes zu mir emporsteigt und zu mir spricht, daß das Sterben der Schlesier mich nun anrührt und mich durchdringt wie ein Hilferuf, das Sterben in dieser mitleidlosen, in dieser höhnischen Gestalt.

 

Ich komme nun  nicht nur als Neugierige nach Schlesien, als jemand, der es den jetzigen Deutschen einmal zeigen will. Ich komme als eine Deutsche, die dieses leere, vom Grauen erstarrte Schlesien  in sich trägt.

 

Wenn Völker  Wesen sind und  eine Seele haben, dann gibt es auch eine Seele der Deutschen, die alle Deutschen, ob sie es wollen  oder nicht, umschließt, dann hat diese Seele   in jedem einzelnen Deutschen  eine Wohnung, dann ist Schlesien wie eine nicht heilende Wunde in jedem Deutschen verborgen. Wunden aber bereiten Schmerzen, tiefe Schmerzen, auch, wenn man meint, sie unfühlbar machen zu können, indem man sie nicht berührt. Wunden und Schmerzen warten auf ihre Stunde, warten darauf, daß   sie empfunden werden und ertragen, so lange ertragen, bis sich ein Weg zur Heilung zeigt.

                                        

Kann i c h den Schmerz um Schlesien ertragen? Den Schmerz um ein  wie für immer verwüstetes Land? Um m e i n  Land, in welchem  nicht nur meine Görlitzer Ururgroßeltern lebten, sondern noch  viele,  viele andere, die zu mir gehören?

 

Die Mittagshitze verdichtet sich zu einem  Flimmern. Leer und stumm liegt Schlesien vor mir, ausgebreitet bis hin zum fernen, Himmel und Erde miteinander verbindenden Sommerdunst.

Ein polnischer Schaffner kommt ins Abteil, verkauft mir mit vielen Gesten und  weich zischenden Unverständlichkeiten eine Fahrkarte. Dann geht er wieder, ein  konturenloser Mensch mit Fadenhaaren, mit  zu großen Ohren und mit einem Schimmer von Freundlichkeit in seinen braunen Augen.

 

G r ü n b e r g

 

Meine erste Station ist die Stadt Grünberg im nördlichen Niederschlesien. In Grünberg sehe ich nun erstmals Bilder vom jetzigen Schlesien, Bilder Ostdeutschlands.

 

Stadtbild

 

Einstmals ist Grünberg wie die meisten schlesischen Städte ein wohlhabender Ort  gewesen, in welchem die Bewohner offenbar Mittel und Zeit genug hatten, ihr gehobenes Daseinsgefühl durch prachtvoll geschmückte Bauwerke auszudrücken.

 

Den Marktplatz umgaben Fassaden,  reich verziert aus Lust an der schönen Form. Die  Straßen Grünbergs waren breit angelegt, lagen unter schweren Baumkronen, vom Prunk vielstöckiger Bürgerhäuser gesäumt. Die überhohen Türen und Fenster dieser Häuser waren wie griechische Tempel überdacht. Treppenaufgänge hatten Säulengeländer, Balkone steinerne Balustraden.

 

Was nun haben die neuen Bewohner, welche so unversehens in den Besitz all dieser Stattlichkeiten gekommen  sind, was haben die Polen  damit gemacht? Nur sehr wenige Häuserfronten haben im Laufe der vergangenen Jahrzehnte eine sorgende Hand  in Form eines Farbanstriches erfahren, und die verwendeten Farben sind alle durchsetzt mit Nuancen von Aufdringlichkeit: Rötlich spielt hinüber ins Erdbeerfarbene, Graugrün ist waldmeistergetränkt, Graublau hat einen stählern drohenden Schimmer. Die meisten Häuser  stehen noch so da, wie sie von ihren einstigen Besitzern verlassen worden sind. Nur: Die Eingänge und die Fenster der unteren Stockwerke sind  mit Brettern vernagelt. Hier ist das Hausinnere  Lagerraum geworden und entsendet  einen scharfen Dunst. Aus den Fenstern weiter oben dringen Wohnluft und immer wieder schrille Töne allzusehr zusammengedrückter Hausgemeinschaften.

 

In einem geöffneten Fenster meine ich eine über die ganze Fensterbreite ausgespannte deutsche Fahne zu entdecken. Es sind aber drei auf dem Fensterbrett zum Lüften übereinandergestapelte Matratzen, denen eigene Färbung und die Besonderheiten der Beleuchtung  das Aussehen unserer deutschen Farben verliehen haben.

 

In einem anderen geöffneten Fenster, von darüber hängenden Fladen nahezu abgelösten Putzes bedroht, sitzt ein halbnackter Mann und genießt die belebenden Strahlen der Sonne, des Himmelslichtes, welches sich nicht kümmert um die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Beschienenen.

 

Während ich langsam und mit offensichtlichem Touristengebaren die  Straßen meiner ersten schlesischen Stadt durchwandere, spüre ich aus einem weiteren der vielen geöffneten Fenster den Blick einer alten Frau. Die weißen Haare zurückgekämmt, das Gesicht ohne Bewegung, die Augen voll abgrundtiefer Traurigkeit, schaut sie mir nach, solange sie mich sehen kann. Und immer wieder wende ich mich nach ihr um: Eine hier zurückgebliebene, nun heimatlose Deutsche? Oder eine hier hineingetriebene Polin, die  auch keine Heimat hat?

 

Freiheit

 

Nun könnte man sagen, für den desolaten Zustand Grünbergs, ja, für den Zustand ganz Ostdeutschlands - denn ich kann mir nicht denken, daß es auch nur in einer einzigen ostdeutschen Stadt besser aussieht als hier - für diesen Zustand sei allein der den Polen von den Russen aufgedrückte Kommunismus, die Zwangsgleichheit des menschlichen Seins verantwortlich, und nicht die Polen selbst. Vier Jahre aber sind nun schon vergangen seit der für die Polen so wunderbaren Wende von der Gleichheit in die Vielheit. Vier Jahre hätten die Polen Zeit gehabt, den über sie gekommenen Besitz wirklich in Besitz zu nehmen und so etwas wie Polen daraus zu machen.

 

Was aber hat sich geändert seit dieser Zeit ?

Nur dieses: In der unteren Etage eines dieser alten Häuser ist ein Jeansladen eingezogen. Schrilles, von der rohen Energie gleichförmiger Buschtrommeln vorangetriebenes Ächzen dringt aus den Fenstern und lockt ausgehungerte Käufertrauben hinein in dieses frisch gegründete Etablissement freiheitlichen Sprießens. Auf einer ziegelroten Wand neben dem Eingang droht als Symbol der neuen Werte, tiefschwarz und mannshoch, ein fünfzackiger Stern. Daß dieser Stern, wenn auch nicht farb-,  so doch formgleich ist mit einem Emblem des jüngst überwundenen Gleichheitszwanges, das scheint hier niemanden zu stören. Dazu hat die Begehrlichkeit nach Levis- und Mustangjeans schon zu sinnverwirrende Ausmaße angenommen.

 

Aus einem anderen, im Namen der erkämpften Befreiung neu entstandenen Bekleidungsladen drängen sich dem Betrachter weitere weltumspannende Moden entgegen: Oberteile in Signalgrün, in verschiedenen Schattierungen von Violett und in schockorange, alle entweder mit grellen Hinweisen auf das Ursprungsland dieser neuen Freiheiten versehen oder bedeckt mit einer Wirrnis von sieghaften Spitzen und Pfeilen, unter denen der Fünfzacker seinen festen Platz einnimmt.

 

Einige Fenster sind mohnblumenrot zugehängt. Es gibt nun auch düstere Freuden verheißende Lustbarkeitskeller im schlesisch  polnischen Grünberg. Überall  dampft es nach Marlboro.

 

So scheinen  die  derzeitigen Polen lediglich daranzugehen, sich aus der einen Form der Gleichheit, welcher sie letztlich ihre neuen Besitztümer verdanken, in eine neue Art der Gleichheit hinein befreien zu lassen,  welche sich nur irreführenderweise Vielheit nennt, welche sich von der ersteren  nur durch die grellere Farbgebung unterscheidet.

 

Sie unternehmen nichts gegen den Wechsel der Fremdbestimmung, die Polen, denn  die neue  Gleichheit garantiert ihnen ja genau so, wie die alte, ihren weiteren Verbleib in Ostdeutschland, in Schlesien.

 

Tempelchen

 

Am Stadtrand von Grünberg liegt ein Park. Auf verwilderten, leicht ansteigenden   Wiesen stehen Linden und Eichen, deren Bestimmung es einst war,  die darunter Einherwandernden vor der sommerlichen Hitze zu schützen. Zur Zeit aber wandert niemand einher unter den alten Bäumen. Es ist still hier und leer von Menschen.

 

Am oberen Ende des Parkes steht ein Tempelchen.  Eine halbkreisförmige Wand trägt eine runde Kuppel. Diese Wand wird an beiden Seiten durch eine oben waagerecht abgeschlossene Säulenreihe fortgesetzt. Neben dem Tempelchen steht eine helle Marmortafel auf einem Sockel.

Hier mögen sich einst zur ersten Annäherung der Geschlechter die Grünberger Jugendlichen getroffen haben. Hier konnte man sich besinnen nach den Aufregungen und Mühen des Tages.

 

Da die jetzigen Einwohner von Grünberg offenbar keinen Bezug haben zu diesem Orte der Beschaulichkeit, wuchert nun hier kniehoch  das Kraut, ist die Wand des Tempelchens voller Risse und Flecken. Auf der Marmortafel, die vielleicht einmal die Namen von Grünberger Honoratioren trug, oder welche zum Gedenken an  Kriegsgefallene der Stadt aufgestellt worden war, auf dieser alten Gedenktafel sind  alle Namen und Worte bis zur Unleserlichkeit abgeschliffen.

 

Kann man die, welche in diesem Tempelchen ihre Freuden hatten, aus ihrem einstigen Dasein drängen, indem man den Ort ihrer Freuden dem Verfall überläßt? Kann man Tote aus ihrem gelebten Leben stoßen, indem man ihre Namen von Gedenktafeln schmirgelt wie Unebenheiten von einem rauhen Stein?

 

Ich spüre sie doch noch in der reglosen Mittagshitze, die, welche hier einst waren. Ich spüre ihre Sehnsucht, ihre Wünsche, ihre Gedanken. Und ich fühle den bedauernden Spott, mit dem sie nun auf die Derzeitigen herabschauen, welche in kindischer Hilflosigkeit meinen, etwas, was einmal war und deshalb nicht wieder vergehen kann, durch Nichtbeachten, durch Abschmirgeln zum Vergehen zu bringen. Nach  einer kleinen Zeit werde auch  ich von diesem Ort, von diesem Grünberger Tempelchen, fortgegangen sein.    Gibt es eine Macht auf der Welt, welche imstande wäre, ungeschehen zu machen, daß   I c h  hier war? Irgendwann werde ich überhaupt nicht mehr da sein in dieser Welt. Wer wollte mir dann das Leben nehmen, das ich einmal hatte?

 

Alles, was war, erscheint uns doch nur vergangen, weil wir es nicht mehr sehen. In Wirklichkeit  hat  das Vergangene eine unvergängliche,  eine ewige Form angenommen und ist dem Zugriff der jeweils Lebenden  für immer entzogen.

Ist es so? Es ist so!

 

B r e s l a u

 

Einen Tag lang habe  ich in Breslau verbracht, welches nun Wroclaw heißt. Die Erstarrung, die über Schlesien liegt, ist in Breslau - Wroclaw in  eine wirre Bewegung geraten, in die Bewegung eines Strudels, welcher denen, die sich darin befinden, Hören und Sehen so verwischt, daß die Widersinnigkeit des Gehörten, des Gesehenen nicht mehr wahrgenommen werden kann.

In den Bahnhofshallen, in den Straßen, am Oderufer, überall schieben, hasten, drängeln sich Menschen an mir vorbei, Schwärme von Menschen, die eine  fremde Sprache sprechen, Menschen, denen man ansieht, daß die Not sie umtreibt oder irgendein düsteres Verlangen. Es sind Menschen, die sich die Zeit nicht nehmen können, darüber nachzusinnen, warum sie hineingestoßen worden sind in eine ihnen fremde, in eine deutsche Stadt.

 

Wollte ich all die Bilder von Breslau - Wroclaw niederschreiben, die heute an mir vorübergezogen sind und von denen mir der Kopf noch so voll ist, es gäbe ein eigenes Buch.

Ich belasse es bei diesen:

 

Jahrhunderthalle

 

Sie stammt aus der Zeit, als den Deutschen noch kein Krieg verloren gegangen war, als es den Deutschen  noch ganz normal erschien, den Stolz auf ihr Vorhandensein durch Staunen erregende Bauwerke auszudrücken.

 

Erbaut im Jahre 1913, genau 100 Jahre also nach der tatsächlich staunenswerten Befreiung der Deutschen von der französischen Bedrückung, war die Breslauer Jahrhunderthalle mit einer Kuppel von 65 m Durchmesser damals die größte Veranstaltungshalle der Welt.

Die Breslauer Jahrhunderthalle hat den letzten Krieg einigermaßen heil überstanden. So, wie ihre Erbauer sie gemeint haben, steht sie noch immer  da. Man sieht es ihr nicht an, daß sie einen neuen Namen bekommen hat: "Hala Ludowa", das heißt" Volkshalle", Halle für ein Volk, das gegen ein anderes  ausgewechselt worden ist. Das von den Polen gebaute, ca. 100 m hohe, nadelförmige Denkmal auf dem Vorplatz der Halle stört den Gesamteindruck nur geringfügig, da es allein den derzeitigen Bewohnern der Stadt  bekannt ist, woran beim Anblick dieses Denkmals erinnert werden soll: an Wroclaw als einen wieder gewonnenen polnischen Besitz mit Einschluß der Breslauer Jahrhunderthalle!

 

Im Inneren der Halle ist es Nacht. Dem Eingang gegenüber ist eine überdimensionierte Kinoleinwand aufgestellt worden, auf welcher   wild einherjagende, sich zuzeiten überschlagende Personenwagen mit grell schreienden, meist  grausam verstümmelten Menschenantlitzen wechseln. Daseinsgestaltung aus den USA!  Das derzeit weltweit gepflogene monotone  Kreischen, welches sich auch in Grünberg schon eine grelle Bahn geschlagen hat, versetzt die schwarze Undurchdringlichkeit der Breslauer Jahrhunderthalle in ein gefahrenschwangeres Vibrieren.

 

Irgendwann löst sich aus dieser Schwärze eine wankende Gestalt und strebt dem Ausgang zu. Eine zweite folgt. Als die beiden an mir vorbei ziehen, hinterlassen sie  den scharfen Dunst hinuntergespülter Verdrießlichkeit.

 

Feenweg

 

Von einem Freund unserer Familie, wir nennen ihn Onkel Albrecht,   habe ich eine Breslauer Adresse: Feenweg 12. Onkel Albrecht ist Breslauer.  Im Januar 1945, kurz vor der Belagerung der Stadt, wurde er im Alter von 14 Jahren  mit seiner Mutter und mit seinen Geschwistern aus Breslau evakuiert. Die Rechtsanwaltsfamilie hatte  in einem Breslauer Villenvorort ein schönes Haus besessen. Dieses Haus, sein Elternhaus, hat Onkel Albrecht seitdem nicht mehr gesehen.

Als er von meinem Reisevorhaben erfuhr, trug er mir auf, als   Vertreterin   einer jüngeren, unverwundeten Generation doch einmal nachzuschauen, was in all den vergangenen Jahrzehnten aus dem Feenweg geworden sei.

 

Den einstigen Feenweg habe ich gefunden. Rissig und fleckig geworden stehen die   großzügig und solide gebauten Villen  noch so da, wie sie ihre ursprünglichen Besitzer verlassen haben. Nur die Bäume und die Büsche in den Gärten haben an Umfang zugenommen.

Meine Suche nach dem Elternhaus unseres Freundes führt mich zunächst in ein anderes Haus. Nein, hier habe zu deutscher Zeit kein Rechtsanwalt gewohnt, versichert mir in einem hinlänglichen Englisch der Hausherr, ein junger, schnauzbärtiger Pole mit vertrauenerweckenden dunklen Augen. Das sei im Hause gegenüber gewesen.

 

Dennoch  zieht er mich geradezu überschwenglich in das Hausinnere hinein und nötigt mich, in einem Gartensessel auf seiner Terrasse Platz zu nehmen. Die Terrasse ist von Baumkronen überschattet. Von allen Seiten wuchert es grün und blumig um die abgetretenen Fliesen. In den Ecken liegt Kinderspielzeug. Der junge Hausherr trägt Kaffeetassen herbei, setzt sich neben mich und macht Miene, mir sein Vorhandensein im Feenweg zu verdeutlichen: Seine Eltern hätten das Haus nach dem Kriege gekauft, und er selbst sei in diesem Hause geboren worden. Breslau sei somit seine Heimatstadt und die Heimat seiner Kinder. Zur Zeit arbeite er hier als Archäologe und helfe mit, Altertümer aus der Frühzeit Wroclaws auszugraben. Diese Altertümer wiesen durchweg auf eine slawische Urbevölkerung hin..

 

Freundlich schaut der Pole mich an und erwartet arglos meinen Beifall.

Soll ich oder soll ich nicht? Ich weiß, die Gründe zu widerstehen sind zwingend, und es gibt keine Entschuldigung dafür, der Verlockung dieser, wie mir scheint, einmaligen Gelegenheit einfach kampflos zu erliegen. Aber ich erliege doch. Verborgen hinter dem Schutzschild meiner mangelhaften Beherrschung der englischen Sprache, sage ich voll einleitender Rätselhaftigkeit:

"Don ' t you think, that life is full of hidden problems here in Breslau?"

Ich sage Breslau, nicht Wroclaw.

 

Noch geht kein Schatten über die glänzenden  Augen meines Gegenübers. Also arbeite ich mich in meinem ringenden, wörterhaschenden Englisch weiter voran, etwa so:

 

"Es ist absolut trostlos für einen Deutschen, durch diese Stadt zu gehen, überall Vertrautes, Deutsches zu erblicken und zu wissen: Es ist alles leer geworden. Alle die, die hier wohnten und die einmal zu mir gehörten, sind getötet oder ausgetrieben. Es sind andere. die nun hier leben, Fremde, deren Sprache ich nicht kenne. Können Sie mich verstehen? Deutsche sind doch auch Menschen mit einem Herzen."

 

Ich sehe den jungen Polen dabei nicht an.

 

"Ich kenne Menschen, die damals aus Schlesien verjagt worden sind. Man sagt, die Vertriebenen hätten sich mit ihrem erzwungenem Ortswechsel abgefunden. Aber das ist nicht wahr. Die Schlesier von damals haben sich nicht abgefunden. Sie sind nur zu stolz, ihren Schmerz, ihr Heimweh laut werden zu lassen. Schmerz vergeht nicht. Schmerz bleibt, auch, wenn man versucht, ihn nicht zu berühren."

 

Der junge Pole hört zu, aufmerksam und schweigend. Der Gedanke an  den zufriedenen Oberschlesier, welcher nur noch auf die Entschädigung für seine Häuser in Gleiwitz wartet, ist mir gerade jetzt ausgesprochen lästig.  Ich taste nach einer Brücke zu meinem Hörer:

 

"Ich weiß, als Mensch können Sie überhaupt nichts für diese Verhältnisse. Sie sind einfach hier hineingeboren, sowie ich hineingeboren bin in unsere deutsche Misere.  Aber sollen wir beide denn deswegen das Nachdenken einstellen? So tun, als wäre das alles normal, nur, weil es andere waren, welche dieses Durcheinander hier angerichtet haben?

Was würden S i e sagen, wenn plötzlich ein Deutscher  vor Ihnen stände, der als junger Mensch aus diesem Hause  fortgetrieben wurde? Nun ein alter, trauriger, heimatloser Mann? Was würden Sie empfinden, wenn  dem alten Breslauer die Tränen kämen beim Anblick des Gartens, in welchem er als Kind spielte? Der Freund unserer Familie, der im Hause gegenüber ein Kind gewesen ist, hat es noch nicht gewagt, wenigstens einmal zum Schauen nach Breslau zu kommen.

Aber ich weiß, ich tue Ihnen weh, wenn ich so rede. Die Lage ist für uns alle trostlos und kaum zu entwirren:  Die Lage der Deutschen, die aus Deutschland und  die Lage der Polen, die nach Deutschland getrieben wurden."

 

Alle Freundlichkeit  im Gesicht meines Gesprächspartners ist erloschen. Natürlich. Warum habe ich auch. Nun muß ich mich  in einer verschwommenen Zone zwischen Befriedigung und schlechtem Gewissen zurechtfinden.

 

"Das war doch der Krieg," sagt der Pole schließlich, wie zu sich selbst.

 

"Was geschehen ist, ist geschehen. Wir, die Nachgeborenen, können die Verhältnisse ja nicht mehr zurückdrehen. Wir können nur vorwärts schauen."

 

Er blickt verloren auf eine am Boden liegende bunte Holzeisenbahn, die offenbar seinem kleinen Sohne gehört.

"Aber Ihr Beruf ist doch die Vergangenheit. Haben Menschen nicht die Pflicht, eine ehrliche Ordnung in ihre Vergangenheit zu bringen,  egal, wie sie sich dabei fühlen.......?"

 

Der Pole schweigt. Ich habe die Brücke zu ihm nicht gefunden.

 

Als ich ihm zum Schluß die Hand gebe, habe ich das Gefühl, tief mit hineingezogen zu sein in die heillose Verwirrung, in welche sich zwei Nachbarvölker von anderen, von den Siegern des Krieges, hineinmanövrieren ließen.

 

Im Feenweg 12, im Hause von gegenüber, öffnet mir eine nicht mehr junge, dafür recht korpulente Blondine in einer hellrosa Kittelschürze. Der einstigen Landessprache offenbar mächtig, hört sie sich mein etwa so vorgetragenes Anliegen ohne Bewegung an: Ich sei aus Deutschland. Der Freund meines Vaters sei der Sohn des einstigen Hausbesitzers, und ich wolle nur einmal fragen....

 

Nach gedankenreichem Schweigen schiebt mich die neue Inhaberin von Feenweg 12 durch die Haustür in das Hausinnere hinein. Wir stehen auf dem Parkettfußboden eines großzügigen, jedoch kaum möblierten Zimmers, dessen Wände rundum mit Teppichen zugehängt sind.

 

"Das ist das Wohnzimmer", erklärt mir die Frau. "Den Parkettfußboden habe ich mir selber legen lassen: Die Teppiche habe ich alle gekauft."

 

Sie sei im Kriege zusammen mit ihren Eltern in Warschau ausgebombt worden, fährt sie fort. Deswegen habe man  ihren Eltern dieses Haus zur Verfügung gestellt.

 

"Nun sind die Eltern tot. Das Haus ist mein Eigentum. Übrigens, ich unterrichte polnische Literatur an der hiesigen Universität."

 

Dann führt die polnische Professorin mich nach oben und zeigt mir das Arbeitszimmer des Hauses. Hier ist ebenfalls Parkettfußboden, und die Fensterscheiben sowie die Scheiben einer Balkontür sind wie Kirchenfenster in kleine Quadrate aufgeteilt und mit bunten Bildern bemalt: In einem der Fenster tanzt, wappenartig umrandet, auf  hellblauem Untergrund ein rot - blau gekleidetes Bauernpaar. In einem anderen, von blauen Girlanden umgeben, sitzt eine weißgekleidete Prinzessin, welche wie im Nachdenken ihren Kopf in die Hand stützt. In einem dritten Fenster präsentiert ein  Ritter seine Waffen auf goldenem Grund. Die Balkontür ist geschmückt mit dem im durchscheinenden Licht besonders buntstrahlenden Breslauer Wappen.

 

"Diese Glasmalereien haben wir geschenkt bekommen. Vater hatte einen Sinn für so etwas und  ließ sie bei uns  einzusetzen", sagt die Hausherrin ohne Verlegenheit. "Und die Möbel" - das Zimmer ist mit dunklen, aufwendig geschnitzten Eichenmöbeln ganz einheitlich möbliert - "von den Möbeln haben wir nur diesen einen Tisch hier vorgefunden. Alles andere haben wir antiquarisch erworben."

 

Liegt Stolz in ihrer Stimme? Oder  auch ein Anflug von Betretenheit?

 

Ein bis unter die Decke reichendes Regal ist mit Büchern  zugestellt.

 

"Darf ich?" frage ich sie und schiebe mich, ohne eine Antwort abzuwarten, an die Bücherrücken heran. Es ist eine Bibliothek, welche offenbar von dem literatur- und geschichtsbegeisterten ehemaligen Hausherren zusammengetragen worden ist: Die deutschen Klassiker z.B. in  Luxusausgaben, mehrere  vielbändige Lexikareihen, verschiedene Biographien  Friedrichs des Großen  und die seiner  Feldherren, Preußische Geschichte von Leopold v. Ranke. Alles ist in Leder gebunden und nach Themen geordnet, aber offensichtlich lange, lange nicht mehr in die Hand genommen.

 

"Auch die Bücher hat mein Vater in einem unserer Antiquariate gekauft," höre ich die polnische Professorin sagen.

"Mein Vater konnte gut deutsch lesen."

 

Ich beginne hier und da zu blättern und gerate in Gefahr, die umgebenden Umstände vorübergehend aus den Augen zu verlieren.

 

Hans Grimm finde ich, Gesammelte Werke;  Gustav Freytag, Soll und Haben und Die Ahnen, Bücher, welche derzeit in kaum einem deutschen Universitätsseminar mehr zu finden sind.

 

Schließlich halte ich eine Festschrift des Breslauer Matthiasgymnasiums in der Hand, in welchem der Name meines fernen Auftraggebers mehrmals in Schülerlisten aufgeschrieben steht.

 

"Hier habe ich ein Buch aus der Schule gefunden, in welche unser Freund einmal gegangen ist. Darf ich es ihm mitnehmen? Es wäre für ihn eine große Freude."

 

Die überrumpelte Polin versteht, und ohne Übergang wechselt sie den Standort.

 

"Ja, Sie dürfen. Brauche das Buch nicht zur Zeit. Obwohl, man ist jetzt in Polen kaum mehr in der Lage, sich  neue Bücher zu kaufen.      Die Gehälter für die Intelligenz sind nur noch ein Hungerlohn. Dazu sind alle Subventionen für Universitäten gestrichen. Wir steuern auf eine Katastrophe zu in diesem Land."

"Unser Freund hat mir etwas mitgegeben. Ich kann es für einen Fall wie diesen verwenden. Nehmen Sie es als kleines Dankeschön!"

 

Ich gebe ihr einen 20,- DM Schein. Mit aufrichtigerer Freude schiebt ihn die Beschenkte  in ihre Schürzentasche und geht in die Küche, um Kaffee zu machen, für mich heute den zweiten.

 

Wir setzen uns an das kleine, weiß gedeckte  Eichentischchen, dem allein das Anrecht auf seine deutsche Herkunft erhalten geblieben ist. Dabei erfahre ich noch viele bekümmernde Einzelheiten vom Schicksal der in Warschau ausgebombten polnischen Familie, und ich höre meiner Gastgeberin zu in ehrlicher Anteilnahme.

 

Statt mich noch einmal zu den bohrenden  Unerquicklichkeiten von vorhin verleiten zu lassen, zeichne ich mit dem Finger die bunten Figuren des Breslauer Wappens  nach, welche die Strahlen der niedergehenden Sonne durch ein Fenster hindurch auf das Tischtuch malt: das von seinem Körper abgetrennte Haupt des heiligen Johannes und den gelben Schein um den Kopf des heiligen Matthias, dem  einstigen Schutzheiligen der Stadt, welcher der Schule des kleinen Albrecht einmal seinen Namen gab.

 

Dann verabschieden wir uns voneinander im schönen völkerübergreifenden Einvernehmen. Ohne es direkt zu beabsichtigen, haben wir einander unerwartete Freuden bereitet.

 

Rathaus

 

Das  Breslauer Rathaus  soll das schönste spätmittelalterliche Rathaus Europas sein. Es hat ebenfalls den Krieg und die Belagerung der Stadt auf wunderbare Weise überstanden.

 

Es ist auch für mein im verbliebenen Deutschland an viel Schönes gewöhntes Auge überaus stattlich, kunstreich und schön. Die Bürger von Breslau haben ihren Reichtum und ihren Formsinn in schweren, wie für die Ewigkeit errichteten Mauern ausgedrückt, in aufwärts strebenden  Verzierungen, in steingrauen Statuen, in Giebeln, Erkern und Türmen und schließlich in einer prächtigen, Stunden, Tage und Jahre messenden Uhr, alles derzeit jedoch  vorgestellt als grandiose Beispiele polnischen Gestaltungsvermögens.

 

Auch im Inneren des Rathauses ist alles so geblieben, wie es einst war: breite Marmortreppen, mit geschnitztem Holz verkleidete Stuben, weite Säle unter hohen,  steinernen Bögen.

In einem der Säle hängt das Bild eines ratsherrlichen Festessens.

Auf hufeisenförmig zusammengestellten Tischen ist die Mahlzeit aufgebaut: Schüsseln mit Geflügelteilen und mit Fisch, Schalen mit Beilagen und mit Süßem, Türme von Trauben und anderem Obst des Landes und viele, viele blitzende Krüge. Vor jedem Platz stehen mehrere Teller und ein schimmerndes Glas.

 

Noch hat das Essen nicht begonnen. Die geladenen Breslauer Ratsherren, schwarzgekleidet alle mit umgelegtem weißen Spitzenkragen, wenden sich dem Betrachter zu: Sie haben breite, freundliche Gesichter, zeigen sich zufrieden, ein wenig verlegen und auch ein ganz klein wenig verschmitzt.

Diese wahrscheinlich  in den Stadtprospekten Breslau - Wroclaws als urpolnische Bürger beschriebenen  Breslauer Ratsherren erwidern fröhlich meine Blicke und antworten mir in ihrer gemütlichen schlesischen Mundart, welche mich, obwohl ich sie kaum je gehört habe, so vetraut  berührt.

 

Habe ich es nicht gesagt? Das, was war, i s t . Und das, was war, hat überhaupt nichts zu tun mit dem, was sich heute eine bösartige und durcheinandergeratene Gegenwart darüber in die Tasche lügen mag.

 

Das ist Breslau - Wroclaw, das  Zentrum des neuen Schlesiens.

 

Notgedrungen hat  man es hier lernen müssen, mit Begriffen zu leben, für die es keine Anschauung gibt, welche man daher auch nicht denken kann. Schlichte Gemüter nennen so etwas: Lüge. In der Sprache von  differenzierteren Köpfen heißt das: Absurdität. So bleibt den jetzigen Einwohnern von Schlesiens Hauptstadt, den einfältigen wie den mehrfältigen, nichts weiter übrig, als das Denken  einzustellen, sich  allein um die Forderungen des Tages zu kümmern und  vor dem, was ist, vor dem, was war und auch vor  dem, was kommen mag, einfach die Augen zu verschließen.

 

 

O p p e l n

 

Gedenkstein

 

Oppeln ist die Hauptstadt Oberschlesiens.

 

Im Zentrum der Stadt steht ein Gedenkstein für die glückliche Rückführung des urpolnischen Oberschlesiens ins polnische Mutterland. Dieser Stein hat im Ursinn des Wortes überwältigende Ausmaße: Ein tiefschwarzer, kantiger Koloß von der Größe eines mehrstöckigen Hauses scheint in seiner finsteren Übermächtigkeit aus Zonen herzustammen, welche Menschen für gewöhnlich meiden. Darüber hinaus ruht diese sichtbar gewordene Gewaltsamkeit auf einem so schmalen Fundament, daß nicht nur psychische, sondern auch leibliche Bedrohung  für alle Umherstehenden beabsichtigt erscheint.

 

Wer soll hier derart mit Verlust von Geist und Leben bedroht werden, daß ihm kein Raum mehr bleibt, über die hiesigen Verhältnisse in Unbefangenheit zu befinden? Die neue Bevölkerung Oberschlesiens? Oder die spärlich aus dem Restreich anreisenden Deutschen?

 

Unter dem Stein steht eine kleine Gruppe debattierender Menschen: ein junger, außerordentlich erregter Pole, ein blasser Jugendlicher, welcher sich nicht Pole, sondern Oberschlesier nennt, und schließlich ein westdeutscher Journalist, welcher  die Beantwortung seiner an die Umstehenden gerichteten, für niemanden aber recht verständlichen  Fragen in einer deutschen Tageszeitung zu veröffentlichen trachtet.

 

Menschen

 

Auch in Oppeln habe ich einen Auftrag: Die Eltern einer Freundin hatten im alten Oppeln ein Fuhrunternehmen mit Pferden. Ich solle doch einmal nachschauen, was nun daraus geworden sei.

Nach vielem Nachfragen finde ich das gesuchte ehemalige Fuhrgeschäft in einer Seitengasse. Ein geräumiger Innenhof wird von einem Wohnhaus und von drei langen Stallgebäuden umgrenzt, alles in dem hier üblichen Zustand: kaum mehr Putz an den Wänden, die meisten Fensterscheiben zerbrochen, die Türen schief in ihren Angeln.  Auf dem Hofe  laufen unruhige, magere Hühner umher. Wäscheleinen sind  behängt mit Arbeitshosen und Unterhemden. Kinder greinen. Und alles ist durchtränkt von den scharfen Ausdünstungen überall verstreuter Abfallhaufen.

 

In einer der schrägen Türen steht eine alte Frau in einem buntbedruckten Baumwollkleid. Ihr Rücken ist gebeugt, die Hände durch die Gicht verkrümmt, der Mund eingefallen. Nur ihre dunklen Augen scheinen vom Alter noch nicht gezeichnet zu sein.

 

"Darf ich einmal herein kommen? Hier haben einmal Bekannte von uns gewohnt, und sie wollen so gerne ein Foto von ihrer alten Wohnung haben..."

 

Die alte Frau versteht kaum Deutsch, errät aber meine zusätzlich durch Gebärdensprache ausgedrückten Wünsche.

"Bitte.." Sie zieht mich förmlich zur Tür herein und dann die Treppe hinauf.  In einen Raum, Küche, Schlaf - und Wohnzimmer in einem, nur durch einen Stoffvorhang zur Treppe hin zu verschließen, sitzt eine weitere Greisin, die offenbar nicht mehr in der Lage ist, ihren Stuhl zu verlassen.

 

"Bitte...", lädt auch sie mich zum Umschauen und zum Fotografieren ein mit uralten, zum Sehen kaum noch tauglichen Augen, auf deren Grunde eine Spur von Güte wohnt.

 

Ich schaue mich um, fotografiere und setze mich schließlich  auf den einzigen noch freien Stuhl, um den beiden zuzuhören.  Es sind Erzählungen in einer fremden Sprache, aber erzählt in dem festen Glauben,   verstanden zu werden. Es sind Berichte vom Abschied, vom Hunger, vom Tod, Berichte von Krankheit und von Schmerzen, die nicht mehr zu heilen sind in dieser Welt. Immer wieder weinen die beiden, aber es sind keine Tränen der Bitternis. Es sind Tränen der Unterwerfung unter eine Allmacht, nach deren Absichten man nicht fragt, deren unergründliche Ratschlüsse man nicht befugt ist zu überdenken.

 

Ich nicke, ich höre zu und drücke den beiden abwechselnd die alten Hände. Ohne es zu wollen, haben die Polinnen mich dazu gebracht, auch die herben Nöte der Fremden  mitzufühlen.

 

Beim Abschied küssen sie mich auf beide Wangen und, solange es möglich ist, winkt  mir die noch Gehfähige nach, wobei sie mühsam den verschlissenen Stoffvorhang in der Türöffnung beiseite halten muß. Meinen Geldschein haben die beiden mit Entschiedenheit abgelehnt. Ich habe ihn schließlich einfach auf dem Tisch liegen lassen.

 

Wieder auf dem Hofe, blicke ich mich weiter um. Aus einem Fenster hoch oben schaut eine andere alte Frau zu mir hinunter. Sie schaut  mit einem BLick, wie ich ihn schon einmal in Grünberg gesehen habe. Ich nicke ihr mehrmals zu, und sie bedeutet  mir,  hinauf zu kommen. Der Raum, in dem sie wohnt, ist in der gleichen Weise ausgestattet wie das Zimmer der beiden Polinnen. Die alte Frau heißt mich setzen. Es ist eine Deutsche aus Oppeln, spricht ihre Muttersprache aber nur noch mit sichtlicher Mühe. Sie sei bei der Vertreibung aller Deutschen aus Schlesien zurückgeblieben. Ihren Mann habe sie schon während des Krieges verloren. Ihre beiden Kinder, sechs und acht Jahre alt, starben an Hunger und Kälte zu Beginn der erzwungenen Flucht. Daraufhin hat die gänzlich Vereinsamte  nicht mehr die Kraft aufgebracht, sich  weiterhin den Flüchtlingszügen anzuschließen. Monatelang hielt sie sich  bei einem alten gemischtnationalen Förster in einer Waldhütte verborgen. Schließlich  trieb der Hunger sie zurück zu den inzwischen eingeströmten neuen Landesbewohnern, welche nun entdeckt hatten, daß es geschickter sei, Deutsche für sich arbeiten zu lassen als sie  zu vertreiben. Jahrelang mußte die zurückgebliebene Deutsche  unter polnischer Aufsicht als Magd   auf einem ehemals deutschen Bauernhof arbeiten, später dann in einer oberschlesischen Fabrik. Jetzt lebt sie wieder in Oppeln und hat  eine Rente. Diese Rente aber ist so klein, daß sie schon seit längerer Zeit davon die Miete  nicht mehr bezahlen kann. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht.

 

Die alte Frau hat große Schwierigkeiten, sich zu bewegen, offensichtlich auch Schmerzen. Ihr ehemals  schönes Gesicht ist abgezehrt von Elend und von Krankheit. In ihren merkwürdig hellen Augen ist die Trauer in eine Art Versteinerung übergegangen. Ich könnte auch sagen, in ihren Augen liegt die Erstarrung, mit welcher die neuen Bewohner Schlesiens das Land überzogen haben.

"Es war kein Recht mehr für Deutsche unter den Polen", spricht sie weiter. "Es gibt hier in Oppeln einen großen Hof, unter dessen Erde meine tot geprügelten Landsleute liegen. Niemand durfte darüber sprechen. Wir durften überhaupt kein einziges deutsches Wort mehr sagen. Für uns gab es nur Arbeit und  Angst.

Ich habe gehört, daß man nun nach Deutschland gehen kann, wenn man will. Ich kann aber nicht nach Deutschland gehen. Ich weiß nicht, wie, und ich weiß nicht, wohin. Dazu  habe ich immer Schmerzen. Ich müßte Medizin nehmen, aber ich habe für Medizin kein Geld."

 

Die alte Frau hat keine Tränen. Ich wage auch nicht, ihre Hand zu ergreifen, geschweige denn, den eigentlichen Anlaß meines Hierseins zu erwähnen, das Sich- einmal- umschauen - und- ein bißchen- fotografieren- wollen. Lange sitzen wir stumm, stumm vor einem deutschen Schicksal, für welches es so, wie bei den Polinnen, keine Heilung mehr gibt, nirgendwo.

 

"Lothar, mein Mann ist bei mir", sagt die alte Frau, "mein Mann und die Kinder. Aber bevor ich zu ihnen gehe, muß ich noch sehen, ob Jehova nicht doch noch kommt, Jehova, der uns in der Bibel versprochen hat, das Böse am Ende der Zeiten zu zerschlagen, das Unrecht, die Gemeinheit, das " Tier". Jehova hat gesagt, daß er mit seinen Engeln kommen wird, alle ausgerüstet mit feurigen Schwertern und mit Lanzen. Jehova hat gesagt, daß er alles vernichten wird, was herausgequollen ist aus dem Rachen des Satans. Des Satans in der Gestalt der Polen. Jehova wird kommen...".

 

Ich antworte nicht. Vielleicht bin ich es jetzt, die Tränen hat.

 

Sie ist doch einmal  jung  gewesen, diese alte deutsche Frau aus Oppeln, ein schönes Mädchen, ein Mädchen voller Hoffnung für das Leben, welches vor ihr lag. Und sie hat als Deutsche in einer ganz normalen deutschen Stadt gewohnt, auf einem Boden, der so untrennbar zu ihr gehörte wie ihre Hand. Sie hat gelebt, wie ich jetzt lebe, ohne Furcht vor einem unvorstellbar übermächtigen Widersinn. Oder soll ich lieber sagen, sie hat gelebt, wie ich gelebt habe, bevor ich von Schlesien etwas wußte?

 

Die alte Frau scheint ihre Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Ihre Augen sind in eine mir unzugängliche Ferne gerichtet. Ihre Augen sind hell, hart und leer.

Als ich mich endlich zum Gehen wende, ist es dunkel.

"Es liegt etwas für Sie auf dem Tisch," sage ich, "für Medikamente und für die Miete. Ich werde Ihnen auch aus Deutschland etwas schicken, soweit ich es kann..... Ich heiße Marianne....Auf Wiedersehen...".

 

Hat die Frau es gehört?

"Auf Wiedersehen", habe ich gesagt. Auf Wiedersehen. Wo?

Dort, wo Lothar und die Kinder sind?

 

Franziskanerkloster

 

Meine Wanderungen durch Oppeln führen mich zu einem Franziskanerkloster, welches aus dem 13. Jahrhundert stammt. Wie bei allen Klöstern üblich, umgeben die rechtwinklig angeordneten Klostergebäude einen Kreuzgang, den Ort der alltäglichen sowie der allnächtlichen frommen Besinnung. An den Wänden des Kreuzganges sind Grabsteine einstiger Klosterbrüder angebracht, oft versehen mit verwitterten Reliefs der Verstorbenen,  zuweilen auch noch mit deren Lebensdaten. Nur die eigentlichen Namen der hier Begrabenen sind durchweg mit einem harten Gegenstand zerschlagen. In der Mitte des Kreuzganges sind Gräser und Kräuter zu ihrer natürlichen Höhe emporgewachsen, zum Teil schon wieder verdorrt durch die hier von keinem Luftzug gemilderten Sommersonne. Die Jahrhunderte alten steinernen Bögen sind von Rissen durchsetzt und bedeckt mit dunklen,  meist ineinander übergehenden Flecken.

 

Einige Mönche stehen herum, junge, schmale Gestalten, in deren Augen man findet, was man in ihnen sucht: vom Jenseitigen genährte Nachdenklichkeit. Die Mönche stehen in der Nähe einer Statue des heiligen Franziskus, welcher den Gekreuzigten mit einer schmerzvollen Gebärde an seinen, dem der jungen Mönche ähnelnden Körper drückt. Der steinerne Sockel des Heiligen weist die gleichen Schäden auf wie die Steine der Kreuzgangbögen.

 

Ohne meine Schaulust allzu offenbar werden zu lassen, betrachte ich  die polnischen Nachfolger des heiligen Franz. Was geht vor in ihren jungen Köpfen? Wissen sie, wer die Steine dieses Klosters zusammenfügte? Für wen die namenlosen, verwitterten Grabplatten einst angebracht worden sind? Wissen die jungen Polen, daß vor 48 Jahren - ein Nichts für eine Jahrhunderte umfassende Klostergeschichte - daß noch zu Lebzeiten ihrer Väter  ihre geistlichen Brüder aus diesen Klostermauern vertrieben worden sind, gejagt, gequält und vielleicht sogar erschlagen? Was ist das für ein Gott, den die jungen polnischen Asketen ausgezogen sind zu suchen? Ist es ein Gott, der nur da ist  für das Volk der Polen? Ein Gott, der imstande ist, sich   feindlicher Völker wegen mit sich selbst zu entzweien, um dann allein für das eine Volk Partei zu ergreifen? Was ist das für ein Gott, der in allem Polnischen das Gute, in allem Deutschen aber das Böse sieht? Der nur dann sein glühendes Schwert erhebt, wenn das Volk der Polen um Hilfe fleht? Und dessen "Gerechtigkeit" darin besteht, über  alle Arten von polnischer Ungerechtigkeit hinwegzusehen und der Leiden des geschändeten Nachbarvolkes überhaupt nicht  zu gedenken? Ist dieser Gott etwa mit dem heiligen Vater im Bunde, welcher sich nie die Mühe gemacht hat, seine Freude über die Rückgewinnung eines katholischen Schlesiens zu verbergen?

 

Wäre ich der fremden Sprache mächtig, könnte ich die jungen polnischen Mönche nach dem Gott fragen, dem sie sich verschrieben haben, könnte ihnen von ihres Gottes Widerpart, vom "Jehova" der alten deutschen Frau erzählen, welcher angekündigt hat, mit seinen Engeln und mit feurigen Lanzen zu kommen, um das, was seiner Meinung nach das Böse ist, zu zerschlagen, wo immer er es trifft.

 

Würden die Polen mir antworten?

 

Ich vermeide es, die  Blicke der jungen Mönche zu suchen. Immer wieder nur zeichne ich mit den Augen die schwarzen Flecken auf den steinernen Säulen nach, so lange, bis die Dunkelheit dieser Flecken eine Verbindung zu haben scheint zu der tiefen Schwärze des Gedenksteins, welcher inmitten der oberschlesischen Hauptstadt die Wiedergewinnung urpolnischen Bodens feiert.

 

O d e r

 

Lange habe ich an der Oder gestanden, an der einstigen "Lebensader Schlesiens". Glatt, dunkelglänzend wie ein bleierner Spiegel steht das Oderwasser zwischen den verlassenen Uferwiesen, stumm, wie die darüber lastende  Luft, bewegungslos, ohne zu fließen. Es scheint, als sei das Leben in dem schlesischen Strom für immer erloschen.

 

Die Uferwiesen der Oder gehen über in einen das Ufer begleitenden Laubwald. Hier strömt Kühle aus den dichten Wipfeln der alten Linden, und die  Kühle ist durchtränkt vom süßen Duft der Blüten. Das grauglänzende Oderwasser hat das Bild der Bäume nicht in sich aufgenommen, dennoch aber neigen sich die Blätter und die Blüten der schlesischen Oderlinden  hernieder und lassen mich ihr Wohlgefallen an meinem Kommen spüren. Hellgolden malt die Sonne durch die Baumkuppeln hindurch ihre bewegten Lichter auf den grünen Grund.

 

K r e u z b u r g

 

Marktplatz

 

Es ist Mittag.

Auf dem Marktplatz zu Kreuzburg in Oberschlesien drängt sich unter den wenigen schattenspendenden Bäumen alles Lebende zusammen. Es ist schön, auf einer solchen Schattenbank zu sitzen, wenn auch die vier alten Polinnen neben mir immer wieder dreiste, wortlose Versuche unternehmen, mein  schmales Bankende noch weiter zu verkleinern.

 

Unter einem der Nachbarbäume hantieren sechs polnische Arbeiter, offenbar mit der Aufgabe betraut, ein Stück Erdreich von seinen Trümmern zu befreien und es anschließend mit Pflastersteinen auszulegen. Von längeren Pausen unterbrochen, tragen immer je zwei der Männer ein Trümmerteil von dannen, um es in einem mitgeführten Karren abzulegen. Zwei weitere Männer bringen dann von einem anderen Gefährt als Ersatz einen Pflasterstein herbei. Die beiden noch verbleibenden Arbeiter stehen beiseite, beobachten das Geschehen und überwachen die Verteilung der mitgebrachten Flaschen.

 

In einem der vielen verfallenden Bürgerhäuser ringsum ist meine Großmutter geboren worden, die Enkelin des Görlitzer Bürgermeisters. Da die Familie schon  bald nach der Geburt der kleinen Tochter weggezogen ist, konnte mir meine Großmutter ihr Geburtshaus nicht genau beschreiben. Irgendwo hier in der Nähe aber muß es gewesen sein, heute vor genau 80 Jahren, 3 Monaten und 23 Tagen, in einer Zeit, als Arbeiter, welche Pflastersteine trugen, und als Frauen, welche über Mittag auf den Bänken des Marktplatzes saßen, als all diese noch meine Sprache redeten.

 

Kirchplatz

 

Backsteinrot, schwer und gedrungen steht etwas abseits vom Markt die ehemalige evangelische, nun aber wie alle schlesischen Kirchen rekatholisierte Stadtkirche Kreuzburgs. Hier heirateten meine Großeltern. Hier wurde meine Großmutter getauft.

 

Der Vorplatz der Kirche ist überschattet vom Laub alter Ahornbäume. Unter einem dieser Bäume steht eine steinerne Säule, deren Zweck es einmal gewesen ist, mit einem eingemeißelten Dichterspruch die Vorübergehenden aus ihren Alltagsgedanken herauszulocken. Dieser Zweck hat sich derzeit erledigt, denn es gibt kaum noch jemanden, der hier vorübergeht. Es ist still unter den alten Ahornbäumen Kreuzburgs, still und leer von Menschen. Überdies sind die Worte des Spruches, obwohl sie von der neuen Bevölkerung Kreuzburgs ohnehin nicht verstanden würden, mit einem harten Gegenstand zerstört. Nur zwei Dichterworte   sind  noch zu erkennen: "Hoffnung"  und  "Wiedersehen".

 

Der Spruch könnte von Gustav Freytag stammen, dem schlesischen Dichter, der hier in Kreuzburg geboren wurde, dessen Gedenkbrun nen zwar aus der Stadt fortgeräumt worden ist, dessen Bücher aber noch immer in der Bibliothek der Breslauer Literaturprofessorin stehen.

 

Eine der Kirchentüren steht offen. Durch ein Gitter hindurch kann man in einen Seitenraum der Kirche, in eine Art Pfarrbüro schauen. Vor einer getäfelten Holzwand steht ein großer schwerer Schreibtisch.   Über dem Schreibtisch hängt ein altersdunkles Kruzifix. Hier wurde nichts zerschlagen, nichts fortgeräumt, auch nichts hinzugefügt. Und auch der leidende Gottessohn an seinem Kreuz ist offenbar nicht genötigt worden, seine heilenden Absichten allein den Katholiken polnischer Zunge vorzubehalten. Es ist noch immer das Büro des deutschen evangelischen Pastors von Kreuzburg. Er scheint nur eben einmal hinaus gegangen zu sein.

 

Für Augenblicke ist es mir, als hätte ich hier auf diesem mittagsstillen Kirchplatz in Kreuzburg etwas vom alten Schlesien gefunden, von Schlesien, so, wie es war.

 

Hier auf dem Kirchplatz in Kreuzburg könnte man meinen. daß der Lebensstrom Schlesiens in Wirklichkeit nicht  abgebrochen worden ist. Man könnte glauben, daß er nur vorübergehend ruht, um irgendwann in seiner alten Form wieder aufgenommen zu werden.

 

 

D e u t s c h e  i n  O b e r s c h l e s i e n

 

Erika

 

Bei meinem vielen Herumfragen in Kreuzburg habe ich Erika kennengelernt, eine kleine, blonde, nicht mehr junge, aber Festigkeit vermittelnde Deutsche aus dem oberschlesischen Dorf Jagnitz.

Ohne Groll über Erlittenes, mit einem Strahlen in ihren blauen Augen erzählt mir Erika, wie herrlich, wie wunderschön es  sei, nach so vielen Jahren der Unterdrückung in Schlesien nun wieder deutsch sprechen zu dürfen.

 

"Alle unsere oberschlesischen Dörfer sind ja deutsch geblieben," sagt sie mir. "Wenn Sie wollen, dann besuchen Sie uns in Jagnitz. Sie dürfen nicht aus Schlesien fortreisen, ohne uns Deutsche in Oberschlesien kennengelernt zu haben".

So verbringe ich als Abschluß meiner Schlesienreise noch eine  Woche in Jagnitz in OS, Oberschlesien.   

 

Jagnitz

 

Jagnitz ist eines der vielen oberschlesischen Dörfer, aus denen die Deutschen nicht  vertrieben wurden, weil die Polen glaubten, sie als Arbeiter in der Landwirtschaft und in den oberschlesischen Bergwerken nicht entbehren zu können.

 

In weiten Abständen liegen die einfachen, niedrigen Häuser des Dorfes an langen Straßen, welche aus dem Dorfe hinausführen und in  die Ferne weisen. Direkt unter dem Dachfirst hat jedes Haus anstelle eines Fensters eine torbogenartige Vertiefung, in welcher ein  Kreuz steht, manchmal auch eine altersgedunkelte, einstmals bunt bemalte Madonna.

 

Immer wieder finden sich kleine, steinerne Kapellen oder auch Heiligenstatuen, Bildstöcke genannt, am Straßenrand. Zuweilen ist es, oft überlebensgroß,  der Gekreuzigte selbst. Das dörfliche Oberschlesien ist auch unter den Preußen   katholisch geblieben, katholisch wie das Nachbarvolk, die  Polen.

 

Die Häuser sind alle umgeben von Gärten, welche überquellen von den vielerlei Früchten des Sommers.

 

Zwar ist die Zeit auch in Jagnitz oft nicht daran gehindert worden, ihr zerrüttendes Werk zu vollbringen. Manche der Häuser stehen sogar leer, weil sie ihren Zweck, die Bewohner vor Nässe und Kälte zu schützen, nicht mehr erfüllen können. Eine für hiesige Verhältnisse erstaunliche Anzahl von Heimstätten aber ist angetan mit strahlend frischem Weiß, hat neue Türen und neben den Fenstern Blätter- und Blumenranken, welche auf ihren hellen Untergrund schwankende Schatten malen.

 

Vielstöckige ziegelrote Bauten,  so, wie sie in Schlesiens Städten stehen, gibt es in Jagnitz nur zwei: das Pfarrhaus und die Schule.

 

Die weitläufig nach allen Seiten hin auseinander strebenden Häuser des  Dorfes  stellen sich dem Betrachter aber dennoch als ein zusammengehörendes Ganzes dar. Zum einen: Stattlich, sicher wie eine Festung,  hellgelb verputzt und mit einem das ganze Dorf weithin  überragenden kupfergrünem Zwiebelturm steht auf einem großen freien Platz die Kirche. Von fern, von nah, wo immer man sich in und um Jagnitz befindet: Was sich am Horizont abzeichnet,  was man sieht, was man spürt, das ist die Kirche, die ins Süddeutsche weisende, hell triumphierende Kirche im katholischen Oberschlesien.

 

Zum anderen: All die  langen, irgendwohin führenden Straßen sind wie durch ein über sie geworfenes Netz miteinander verbunden.  Auf allen Gehwegen, sich meist mit ihren Kronen berührend, stehen die Linden und immer wieder die Linden, so, wie ich sie schon auf den Oderwiesen gesehen habe. Wie schützend senken  auch hier die Bäume Schlesiens ihre  dicht belaubten Zweige über die Kommenden und durchtränken die heiße Schwüle des Tages mit   dem süßen Duft ihrer Blüten.  Man braucht nur den Arm auszustrecken, um solch eine herabhängende Lindenblütendolde in der Hand zu halten.

 

Oberschlesien

 

"Gibt es einen Unterschied zwischen Ober - und Niederschlesien? Ist Oberschlesien etwas Eigenes, vom übrigen Schlesien unterschieden?"

 

Erika und ihr Mann Robert, dessen schmaler Kopf immer leicht geneigt ist, um seine dunklen Augen besser nach innen  richten zu können, diese beiden  sagen: "Ja."

 

"Niederschlesien war ein reiches, fruchtbares Land, den Blick immer westwärts gerichtet ins Reich.  Was uns Oberschlesier prägte, ist Sand, sind Birken, Kiefern und Grenzenlosigkeiten. Und all die Jahrhunderte haben unsere polnischen Nachbarn uns gezwungen, ausschließlich ostwärts zu schauen. Manchmal meint man, die   Öde des Ostens reiche schon zu uns hinein.

Was uns  auszeichnet, sind unsere Kohle und unser Erz. Aus den bescheidenen Bergwerken im Osten Oberschlesiens ist  im Laufe der Zeit eine Landschaft der Fördertürme geworden und der Schlote. Das ist unser Stolz. --- Das war unser Stolz," fügt Robert nach einer Pause hinzu.

 

"Wenn Sie Oberschlesien spüren wollen, dann können Sie das am besten, wenn Sie die Worte eines Dichters hören. Wir hatten viele Menschen bei uns, die das sagen konnten, was wir alle empfanden. Hören Sie:

 

Lied der Oberschlesier,

von einem Schlesier vor dem I. Weltkrieg geschrieben:

 

Du, meine Heimat bist verachtet,

du wirst geschmäht und viel verkannt,

man hat als Stiefkind dich betrachtet

im lieben deutschen Vaterland.

Mag sprechen so, wem es gefällt:

Uns wird die Heimat nicht vergällt!

Sie gleicht der Perle tief im Meere,

die nur ein Kenner holt herauf.

Ein Kenner nur wahrt deine Ehre,

mein Oberschlesien, dir Glück auf!

 

Wir kennen keine Felsenkanten

in wilder stolzer Bergespracht;

wir graben schwarze Diamanten

tief in der Erde ew'ger Nacht.

Wie Pappeln, die am Wege stehn,

kannst du die Essen ragen sehn.

 

Es hemmen schwerbelad'ne Wagen

des Dampfroß' fluggewohnten Lauf,

in alle Welt die Last zu tragen:

Mein Oberschlesien, dir Glück auf!

 

Kein Nordseeleuchten, Alpenglühn

ist uns bekannt zur Abendzeit,

doch Hüttenfeuer - Funken sprühen,

und blutig glänzt der Himmel weit.

Die Halde gleicht - sie flammt und brennt -

dem sternbesäten Firmament.

In dem Getriebe der Maschinen

hat jedes Rädchen seinen Lauf.

Es dröhnt wie Brandung, wie Lawinen:

Meine Oberschlesien, dir Glück auf!'"

 

Robert hält eine Weile inne.

 

"Spüren Sie Oberschlesien? Wollen Sie noch mehr hören?

 

Zwei Sprachen hört man bei uns sprechen,

wie oft, daß jemand radebricht,

doch gelte dies nicht als Verbrechen,

denn doppelzüngig sind wir nicht.

Hier an der fernsten Landesmark,

da wohnt ein Volk, so fromm und stark;

verdächtigt nimmermehr sein Streben:

Es nimmt den Schimpf nicht in den Kauf!

Die treue Arbeit ziert sein Leben,

mein Oberschlesien, dir Glück auf!

 

Das höchst Gut der Heimat Gauen,

dem unser Schutz gilt alle Zeit:

Sind unsre Mädchen, unsre Frauen,

an Tugend reich und Sittsamkeit.

 

Sie stärken uns in Not und Kampf

und fürchten nicht den Kohlendampf;

im dunklen Auge glänzt die Treue,

des Mannes Glück hält ihre Hand!

Begeistert tönt der Ruf aufs neue:

Glück auf, mein Oberschlesierland!"

 

Wann habe ich eigentlich zum letzen Male ein Gedicht gehört? Eins Gedicht aus  einer   Zeit, die keine Verbindung mehr   mit uns Heutigen zu haben scheint?

 

Robert fährt fort:

 

"Und wo auf weiter Erdenrunde

ein oberschlesisch Herze schlägt:

Es fleht in letzter, banger Stunde,

daß man es in die Heimat trägt.

Vom Kampf ums Dasein ruht es aus

am rauchgeschwärzten Gotteshaus,

vom Heimweh in die Gruft getrieben.

Man pflanzt ein schlichtes Kreuz darauf,

und auf dem Querholz steht geschrieben:

Zur letzten Schicht, o Freund, Glück auf!"

 

(Hermann Falk in: Oberschlesien in der Dichtung, Berlin 1926, S.105 f.)

 

Wir schweigen. Die Sonne steht schon tief über dem Horizont,  schickt  ihre letzten glühenden Strahlen durch die Büsche und Bäume des Gartens.  Am Zaune summen leise Roberts Bienen.

 

"Das ist eine Sprache, die man heute nicht mehr spricht," sage ich, "jedenfalls nicht mehr bei uns im Westen. 'Not, Kampf, Treue,  Vaterland'. Zur Zeit haben wir solche Wörter aus unserer Sprache gestrichen. Wer sie dennoch benutzt, erntet Spott, leichtgemachten Spott, denn niemand wagt zu widersprechen."

"Bei uns ist das nicht so," sagt Erika, "'Heimat, Arbeit und Treue', das sind die Lebenspfeiler unserer Vorfahren, und wir Oberschlesier haben diese Lebenspfeiler  so tief in uns, daß auch die Mächtigen dieser Welt keinen Zugriff zu ihnen haben."

 

Treue, Heimat, Vaterland, sind solche  Lebenspfeiler vielleicht auch in mir verborgen? Sind  sie es am Ende, die mich nach Schlesien, nach Oberschlesien gebracht haben? Mein Ururgroßvater kommt aus Görlitz. Meine Großmutter kommt aus Kreuzburg.

 

"Wir sind ein Grenzvolk," sagt Robert.

" 'Zwei Sprachen hört man bei uns sprechen,' heißt es im Gedicht.

Während des letzten Jahrhunderts sind Tausende von Polen als Bergarbeiter zu uns gekommen. Viele sind Deutsche geworden wie wir. Viele aber haben ihre  Sprache mit dem Deutschen zum sogenannten Wasserpolnischen vermischt. Von außen gesehen schienen sie deswegen keine richtigen Deutschen zu sein.  Im Herzen aber haben die meisten von diesen das aufgenommen, was wir ihnen vorlebten: Treue zum deutschen Vaterland.

Grenzvolk sein heißt: Wachen, Kämpfen, Leiden.

Wir sind das alles gewohnt. Wir wissen, wie es ist, wenn Unrecht sich mit Macht verbindet und als angemaßtes Recht alles zu zerschlagen droht.

Hören Sie, was ein Ostoberschlesier im Jahre 1921 schrieb, als seine Heimatstadt trotz ihrer Abstimmung für Deutschland zu den Polen gezwungen wurde:

Zunächst über die Abstimmung:

'Es gab einmal Treue, und wir lebten von ihr. Dann kam das Unglück und zerschlug, was in sieben Jahrhunderten zusammengewachsen war. Abstimmen sollte man. Mit blutiger Geißel peitschten sie alles Häßliche, Niedrige, Gemeine aus seinen dumpfen Höhlen und finsteren Schlupfwinkeln heraus gegen das zerrissene Volk, vom Hunger zermürbt. Tausend Leidenschaften züngelten empor.....'

 

Nach der Übergabe der Stadt an Polen heißt es:

 

'Die neuen Herren feiern ihren Nationaltag. Wo Begeisterung fehlt, muß äußere Aufmachung sie vorlügen. Wie immer ein großes Fest. Die Weinenden (das sind die Deutschen) sollen mitlachen, mitfeiern, Geld spenden, trotz ihres eigenen Unglücks triumphieren. Vor Weh krampfen sich die Herzen zusammen, Augen brennen, heiße Lippen zucken.

Aus der alten deutschen Bergstadt, die trotz tausenderlei Bedrängnis ihr Volkstum wahrte, soll dieses deutsche Volkstum  nun mit Gewalt vertrieben werden, ohne Verzug. Was Jahrhunderte in Stein hieben, wollen Tröpfe in Stunden mit dem Lappen ihrer Unfähigkeit fortwischen. In den Nächten, von einem Diener ihrer Kirche geführt, reißen sie deutsche Schilder ab, besudeln Fenster und Mauern, schlagen die Eichbäume um, zu Ehren alter Volkshelden gepflanzt. Eine Schar bezahlter Buben zieht von Haus zu Haus, mit Gewalt drohend, falls nicht bis zum Fest alle deutschen Inschriften entfernt seien...'"

"Wie wir das alles kennen," sagt Robert mehr zu sich selbst, "auch damals schon.

"Schließlich wurde in dieser Stadt noch das Denkmal unseres Kaisers fortgeräumt. Die Deutschen selbst mußten es tun. Zum Schluß, als alles vorbei war, heißt es dann:

'Nacht wird's.- Steht da nicht wieder das Denkmal? Verschleiert - noch in Dämmerung? Aber aus dem dunklen Granit leuchtet im Mondlicht das Gold der unzerstörbaren Inschriften wie fernes deutsches Morgenrot.'"

( Robert Kurpium, Das Schaffot, aus Oberschlesiens schwerster Zeit, in: s.o. S. 258 ff.)

"Das, liebe Marianne war Oberschlesien. Und das ist Oberschlesien, noch immer."

 

Krieg

 

"Erzählen Sie mir  auch vom letzten Krieg," sage ich.

 

"Zuerst kamen am Kriegsende wie überall die Russen, um sich auf die Frauen zu stürzen,  die Männer zu erschießen oder sie auf Nimmerwiedersehen in ihre Taiga zu verschleppen. In unseren Häusern wohnten sie so lange, bis diese auch für Russen nicht mehr zu bewohnen waren.

Dann kamen die Polen. Vertreibung mit den für sie üblichen Methoden. Sie haben es ja auch eben gehört. Nur wir  Oberschlesier in den Dörfern durften bleiben, um den neuen Landesherren  als Arbeiter in ihrem neuen Besitz zu dienen. Die Polen säuberten  uns aber wenigstens von uns selbst. Wir bekamen neue polnische Namen. Unsere Sprache wurde uns verboten. Wer weiter in der Öffentlichkeit deutsch redete, bekam  nach polnischen Recht Prügel. Wer nicht polnisch sprach, kriegte keine Arbeit und konnte zusehen, wo er blieb. Nach Deutschland gehen, ging nicht mehr. Auf die Zwangsvertreibung folgte für uns die Zwangsverbleibung, so, als wären wir Vieh.

 

Und die Polen erschienen nun in unseren Dörfern, um nach dem  zu sehen, was sie für das Rechte hielten. Sie erschienen als Behörde, als Polizei, als Lehrer, als Pfarrer. Und sie sahen nach dem Rechten, nach ihren Rechten. Sogar unter unseren Fenstern haben sie gestanden und gehorcht.

 

Was sollten wir tun? Uns gellten ja noch die Todesschreie unserer Brüder aus den Lagern ringsum in den Ohren. Die Schreie aus dem Lager Lamsdorf.- Ach, lassen wir das."

Robert schweigt.

 

"Wir waren wie Menschen," fährt Erika fort, "denen die Hände abgeschlagen worden waren, denn die Sprache ist für uns Menschen doch das Mittel, die Dinge ringsum zu ergreifen. Wir waren stumm, hilflos, jeder Willkür der Polen ausgesetzt. Wir waren so, wie die Polen uns schon immer  haben wollten: Polnisch: Niemiec, der Deutsche, heißt auch: der, der stumm ist und dumm.  Aus Angst, die Kinder könnten uns verraten, sprachen wir  auch mit ihnen kaum mehr ein deutsches Wort. Auf der Straße mußten wir den Kleinsten  den Mund zuhalten. Manchmal, wenn uns die Verzweiflung überkam, gingen wir, um unsere alten Lieder zu singen, in einen verlassenen Steinbruch oder in den Wald."

 

In der eigenen Heimat mit den Freunden und Verwandten die eigene Sprache nicht mehr sprechen dürfen, bei Strafe des Leibes und vielleicht sogar des Lebens? Das ist wieder  ein neuer kindischer Streich der Polen,  das Unrecht als Recht erscheinen zu lassen, eine neue Fratze des Absurden, unter welcher die hier Hereingespülten als rechtmäßig Zurückgekehrte einher stolzieren. 

 

"Wie habt ihr denn das ausgehalten? Man kann doch nicht so mir nichts, dir nichts auf eine andere Sprache umschalten? Und dann auch noch auf die polnische?"

 

"Da es nirgendwo eine Hilfe für uns gab, haben wir es ausgehalten," sagt Erika. "Wir Schlesier sind ein geduldiges Volk. Wir haben uns 44 Jahre  lang das Deutsche versagt. Wir haben 44 Jahre polnisch gesprochen, weil wir wollten, daß unsere Kinder leben. Die Treue aber zu uns selbst konnte vom Zwang zum Polnischen nicht erreicht werden. Sie hat uns geholfen, Deutsche zu bleiben und zu warten. Auf das deutsche 'Morgenrot'."

 

Dann spricht wieder Robert :

"Nach der hiesigen Wende in die sogenannte Freiheit haben wir uns von der polnische Regierung wenigstens das Recht auf unsere Sprache erzwungen. Es gibt es uns nun wieder, uns, die deutschen Oberschlesier, noch ungefähr eine Million an der Zahl. Für die Polen war das eine peinliche Überraschung. Für eure bundesdeutsche Regierung übrigens auch. Aber was nun auch kommem mag, unsere  Sprache lassen wir uns nicht  ein zweites Mal nehmen.

 

Man könnte uns mit dem Wegerich vergleichen, der unauffällig auf den Wegen wachsenden Blattpflanze, welche sich unter den über sie hinweggehenden Füßen scheinbar wie für immer beugt. Läßt die Vielzahl und Schwere  der Tritte aber nur geringfügig nach, so richtet sich der Wegerich wieder auf und wächst  der Sonne entgegen, als wäre nichts geschehen. Man kann versuchen,  den Wegerich auszureißen. Sein Wurzelwerk aber ist weit verzweigt unter der Erde und dem Zugriff der oben Stehenden gänzlich entzogen. Ohne der  Vernichtungsversuche zu achten, wächst  der Wegerich doch immer und immer wieder hervor."

 

Erika sieht mich mit ihren blauen Augen an. Robert, wie es seinem Wesen eigentümlich ist, hält den Kopf etwas gesenkt, um   nach innen zu schauen.

 

Jagnitzer

 

Meine beiden Gastgeber gehen mit mir durch die Jagnitzer Straßen. Männer in Arbeitskleidung und Frauen in Kittelschürzen kommen und grüßen,  polnisch meist.

 

"Die Menschen hier wagen noch immer nicht, deutsch auch auf den Straßen zu sprechen," nimmt Robert das Gespräch wieder auf.

 

"Dazu kommt, daß  die mittlere Generation und die Kinder das Deutsche nur unvollkommen oder  auch gar nicht beherrschen. Diesen Sieg können die Polen für sich verbuchen, und sie ziehen daraus  die Berechtigung, sich hier auch weiterhin als Sieger zu gebärden. Sehen Sie sich um. Können Sie eine einzige deutsche Aufschrift entdecken? Ein deutsches Ortsschild oder einen deutschen Straßennamen? Bleibt alles verboten, denn wir sind ja hier nicht in Deutschland, sondern in  Polen!"

 

Die Menschen  haben verarbeitete, freundliche Gesichter. In nur wenigen dieser Gesichter  steht  die Bitterkeit, die Unfähigkeit, eine höhnische Übermacht ohne innere Auflehnung zu ertragen.

 

"Einer Fabrik wegen haben wir hier in Jagnitz  auch noch eine Siedlung mit polnischen Arbeitern bekommen. Die ersten Monate waren furchtbar. Abend für Abend zogen ganze Banden los, um  alles, was  beweglich war und lohnend erschien,  abzutransportieren. Polizei? Was macht in solchen Fällen eine polnische Polizei....?? Nachdem wir unsere eigenen Vorkehrungen getroffen hatten, wurde das dann wieder besser. Jetzt kommen russische Banden, um ihrerseits den Polen die Sachen wegzutragen. Uns natürlich auch. Und Polizei ist wieder nicht zur Stelle. Der Respekt vor den Russen sitzt dem Polen noch zu tief!

 

Als die Wende kam, hatten die Polen in der Siedlung Angst, wir Schlesier könnten nun den Spieß herumdrehen und für alles, was uns angetan wurde, Rache nehmen. Rache aber ist etwas, was uns Schlesiern nicht liegt."

 

Aus einem der weißgetünchten Häuser kommt ein älterer Mann und winkt uns: "Wen habt Ihr denn da?" Er spricht deutsch. Meine Begleiter stellen mich als den Besuch aus Deutschland vor, und Stephan, so heißt der Mann, drückt mir so fest die Hand, als hätten wir schon lange zusammen ein tiefes Geheimnis.

 

"Wollen Sie unsere neuen Fenster sehen? Und unser neues Badezimmer?"

 

Ich will. Neue Fenster, ein rosa gekacheltes Badezimmer. Auch für meine an Weststandard gewohnten Augen fehlt es an nichts.

 

"Unser Sohn ist Arzt in Düsseldorf", sagt Stephan. "Er hilft uns, wo er kann. Wir haben ja fast alle jemanden in Deutschland. Sonst sähe unser Leben hier noch  trostloser aus. Auf unsere Verwandten und Freunde im Westen können wir uns verlassen. Sonst aber auf nichts."

 

Stephan lächelt, ein schüchternes,  zögerndes Lächeln in seinem abgearbeiteten Gesicht.

 

"Wir wissen es hier ja alle," sagt er, "wenn wir es auch nicht aussprechen mögen: Es ist noch immer Krieg gegen Deutschland. Noch immer wird der unausrottbare Haß der Polen gegen uns Deutsche von Deutschlands Feinden geschürt. Was die Polen auch tun, was sie auch tun werden,  wie einst wird ihnen von unseren Widersachern, Bonn eingeschlossen, applaudiert. So leben wir hier in Schlesien eigentlich nur von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Ob wir es uns klar machen oder nicht: Hinter jedem von uns steht die Angst, es könnte wieder so kommen wie damals.

 

Die neuerdings überall auftauchenden Aufschriften: 'Deutsche raus aus Polen,' oder besser noch: 'Es ist die Ehre eines Polen, einen Schlesier zu töten'- sind das nicht schon wieder Aufrufe zur Schlacht gegen uns Wehrlose?"

 

"Stephan", sagt Robert, " die Angst ist da. Wir kennen sie ja alle. Aber auch die Angst ist unser  Gegner, mit dem wir fertig werden müssen.  Wir Schlesier leben doch davon, daß wir etwas in uns haben, das größer, weiter, stärker ist als alle Angst. Es ist unser Stolz, daß wir auf einem Grund stehen, der unzerstörbar ist."

 

Stephan nickt und lächelt. "Ich weiß schon, Robert. Es ist gut, daß es dich, daß  euch gibt."

"Wenn die Polen wirklich wieder einmal das große Morden beginnen, dann werden Robert und ich die ersten sein." Erikas blaue Augen leuchten bei diesem Satz fast noch intensiver als sonst.

Da ist es wieder,  das Grauen, das über Schlesien liegt, das lähmende Grauen in seiner erschreckendsten Gestalt.

 

Wir gehen weiter. Frauen auf Fahrrädern kommen, beschäftigt allein mit dem Nächstliegenden. Da das Geld fehlt, da es kaum Einkaufsmöglichkeiten gibt in Jagnitz, werden  die Erzeugnisse der Gartenwirtschaften ausgetauscht: Obst, Gemüse,  Eier. Manche kommen auch mit Butter, mit Käse, mit Kohlensäcken.

 

"Mehr brauchen wir nicht in Oberschlesien", sagt Robert, "aber es genihgt."

 

 Er spricht das 'ü' aus wie ein langes 'i', und der ganze Zauber des Deutschen Ostens, die bescheidene, geradlinige, beharrliche Geduld seiner Menschen liegt in der Art verborgen, wie Robert dieses 'ü' ausspricht: 'Es genihgt. No.'

 

"Frauen sind bei uns meistens berufstätig", sagt Erika. "Dazu müssen sie das Hauswesen besorgen, das heißt: säen, jäten, ernten, kochen, einkochen, Kohlen organisieren, Handwerker suchen, Kranke pflegen, meist ohne die richtigen Medikamente,  - da bleibt nicht mehr allzuviel Zeit zum Grübeln. Und das ist gut so." Erika lacht, ihr leichtes, freundliches Lachen.

 

"Manche Frauen bei uns fühlen sich so gut, daß sie sich sogar den Luxus eines Nachbarschaftsstreites erlauben," ergänzt Robert.  "Seit der Wende zankt sich Erika mit der Nachbarin rechts wegen der zu dicht am Zaune stehenden Apfelbäume."

 

Erika aber antwortet: "Brauchen wir Frauen nicht auch ab und zu etwas Freude?"

 

Als wir weiter gehen, berühren mich immer wieder  die Blätter der Jagnitzer Lindenbäume wie freundliche Hände.

 

Denkmal

 

Mit Robert und dem Vorsitzenden der "Deutschen Minderheit" von Jagnitz, Joseph Potzada, besuchen wir das Denkmal.

 

Gleich nach der Wende hat eine jetzt im Rheinland lebende Jagnitzerin der Gemeinde 5000,- DM geschenkt. In polnischem Geld entspricht das dem zehnfachen Wert.

 

Die Jagnitzer hatten bei der Verwendung der Spende freie Hand. Sie hätten zum Beispiel mit Kaffeeküche, Vortragssaal und Fernseh - Räumen eine deutsch - polnische Begegnungsstätte    einrichten können. Ermunternde Zuschüsse beiderlei Regierungen wären ihnen sicher gewesen. Oder, um sich dem Weltfortschritt anzuschließen, hätten sie eine Diskothek bauen können: für die Jugend etwas 'fun', ein paar neue Arbeitsplätze für die Älteren. Die Jagnitzer hätten doch so etwas wie ein Recht darauf gehabt, nach all den Jahren der Entbehrung.

 

Da die Jagnitzer aber  auf ihren eigenen Fundamenten leben, unsichtbar wie das alte zerstörte Kaiserdenkmal, gibt es für sie nur ein Morgen, welches mit diesen Fundamenten eine Verbindung hat. Wie fast alle deutsch gebliebenen oberschlesischen Gemeinden auch,  bauten die Jagnitzer sich von dem gespendeten Geld ein Denkmal. Einen etwa mannshohen, rötlichen Stein stellten sie auf einen breiten, zweistufigen Sockel und schrieben das darauf, was sie all die Jahrzehnte stumm mit sich herumgetragen hatten:

 

Zum Andenken an unsere

gefallenen Soldaten

und an die Zivilopfer

der beiden letzten Kriege.

 

Die Einwohner von Jagnitz

 

erbaut im Jahre 1991

 

Über der Aufschrift ist  ein Eisernes Kreuz eingemeißelt, darunter zwei brennende Grablämpchen.

 

Herr Potzada, obwohl von Alter und Krankheit gezeichnet, vermittelt Selbstgewißheit und Stolz.

 

"Es war schon ein Husarenstück, den Polen dieses Denkmal abzutrotzen. Der polnische Bischof unserer Region, dessen Aufgabe es ist, über unserer geistigen Gesundheit  zu wachen, hat uns das Denkmal erst einmal verboten. 'Nix deutsch! Nix wieder Krieg!'

 

Irgendwann wurde der Bischof versetzt. Ein neuer Amtsbruder war noch nicht in Sicht. Da stand eines Morgens das Denkmal samt Aufschrift einfach da. Ein polnischer Verwaltungsbeamter, ein Wojwode, der umgehend  erschien, wand sich und litt. Schließlich erkannte er: "Das Eiserne Kreuz ist ein nationalsozialistisches Emblem." Wir erklärtem ihm, daß dieses Emblem schon aus dem Jahre 1813 stamme, als Deutsche und Polen sich gemeinsam von der Franzosenherrschaft befreiten. Der Wojwode litt noch immer und ordnete die Hinzufügung der auch den Polen verständlichen Grableuchten an.

 

Wochen später haben wir dann an der Kirchenwand eine Tafel aufgehängt mit den Namen aller gefallenen, erschlagenen, ermordeten und verschleppten Mitgliedern unserer Gemeinde, 80 und 9o-jährige sind darunter, auch Kinder. Denkmal und Tafel wurden geweiht nach den Vorschriften der katholischen Kirche. Tage später jedoch war beides von einer grellen, öligen Farbe übergossen. Wir mußten sehr, sehr lange putzen.

 

Zur Zeit verlangt der Wojwode, das Denkmal müsse mit einer polnischen Übersetzung versehen werden, um allen des Deutschen nicht mächtigen Polen die Angst zu nehmen. Es könnten ja deutsche Revanchegelüste auf dem Gedenkstein formuliert sein. Wir haben unsere grundsätzliche Bereitschaft geäußert, falls uns das Geld zur Verfügung gestellt werde. Bis jetzt ist bei uns noch kein Geld eingegangen."

 

Die Männer lachen freundlich. Herr Potzada richtet etwas an den Ketten, welche, an kleinen Steinsockeln aufgehängt, das Denkmal ringsum einfrieden. Robert rückt die frisch aufgestellten Blumensträuße zurecht.

 

"Wir leben ja trotz aller Wenden und Verbesserungen noch immer in einer Art Niemandsland", fährt Herr Potzada fort. " Nur in den vielen Nischen und Rissen der polnischen Überwachung können wir uns als Deutsche überhaupt halten. Und wir halten uns. Mag sein, daß unsere Toten, zu denen wir stehen, uns die Kraft dazu geben."

"Mein Vater ist einer von ihnen", sagt Robert. "Die Polen haben ihn damals in eines ihrer Lager gebracht. Er hat kein Grab."

 

Minderheit

 

Seit der Wende ist es den Deutschen in Polen  erlaubt, ihr Volkstum im Sinne einer "Minderheit" zu pflegen. Das bedeutet, die Schlesier dürfen nun Räume anmieten, um dort  Sing - und Volkstanzkreise sowie Kaffeerunden  zu veranstalten. Sie dürfen Spenden, Subventionen der deutschen Regierung sowie Mitgliederbeiträge einnehmen und diese verwalten, und sie dürfen nach vorgeschriebenen Satzungen Vorstände wählen, um später von diesen Tätigkeitsberichte entgegennehmen. Die Hinweisschilder "Deutsche Minderheit" sollten jedoch, um die polnische Mehrheit nicht unnötig zu irritieren, nur unauffällig an den entsprechenden Häusern angebracht sein.

In Jagnitz trifft sich die "Minderheit" mittwochs, 17.00 Uhr.

 

Ich bin als Gast geladen. Erika, Robert und Herr Potzada sind meine Begleiter. Das Haus der "Minderheit" liegt etwas abseits am Ortsrande und kann nur von einem Hofe aus betreten werden, so daß das kleine auf die "Deutsche Minderheit" hinweisende Schildchen über der Eingangstür bisher noch keinen Anstoß bei der polnischen "Mehrheit" von Jagnitz erregte.

 

"Wir Deutschen sind  die angestammten Bewohner des Ortes," sagt Erika. " Hier in Jagnitz sind wir die überwiegende Mehrheit. In den meisten anderen Dörfern machen die Deutschen die Gesamtheit der Bewohner aus. Unser Status aber ist der der "Minderheit". Können Sie das verstehen?"

"Seit ich in Schlesien bin,  habe ich das  Verstehenwollen eingestellt", sage ich. "Das  Unverständliche ist hier wohl immer das Normale."

 

"Das Unverständliche muß aber nicht unlogisch sein", entgegnet Herr Potzada. "Nach schlesisch - polnischer Logik ist es bei uns so: Vor der Wende waren wir von Polnischem so zugedeckt, daß nichts von uns herausschauen konnte. Gar nichts. Von außen gesehen konnte uns niemand von den Polen unterscheiden. Nun aber hat die polnische Verpackung Löcher bekommen, Risse und  schadhafte Stellen. Man kann von außen sehen, was darin ist: Deutsches. Da die Polen aber aus den verschiedensten Gründen Deutsches nicht mögen, beruhigen sie sich nun damit, daß das, was sie von uns sehen, ja nur "Minderheit" sei, Minderwertiges, befangen mit Tätigkeiten minderer Qualität wie z. B. Tanzen, Singen, Wählen  und Kuchen essen. Für uns aber, die wir uns nicht von außen sehen, sondern von innen, die wir das Innere der durchlöcherten Pakete eben sind, für uns ist das Deutsche nicht Minderheit,  für uns ist es:  Alles".

 

Josef lächelt nur mit den Augen, ohne das Gesicht dabei zu bewegen, eine Kunst, die ich bisher nur bei Halbwüchsigen und  Schauspielern beobachtet habe.

 

"Verstehen Sie das? Oder ist das zu schlesisch? Zu mystisch? zu versponnen?"

 

"Wenn das  schlesisch ist, sollte ich es verstehen. Meine Großmutter kommt auch aus Schlesien, aus Kreuzburg, und mein Ururgroßvater kommt aus Görlitz."

 

"So?" Herr Potzada, Josef, lächelt noch immer.

 

Das von außen unansehnliche, seit Kriegsende verfallende Haus der Jagnitzer "Minderheit" ist  innen mit allem nur Wünschbaren ausgestattet: Im Versammlungsraum stehen neue Tische und Stühle. Eine Schlesienkarte aus dem Jahre 1936 hängt an der Wand. In der Küche befindet sich Geschirr für mindestens 50 Personen. Das Büro verfügt über verschiedene elektrische Schreibmaschinen. In der Bibliothek werden Büchersendungen ausgepackt.

 

"Alle die, welche das Bedürfnis haben, sich in der "Minderheit" einmal nicht als Minderheit, sondern als Gesamtheit zu fühlen, kommen zu unseren Veranstaltungen", sagt Josef. "Sie werden es heute sehen. - Zweimal pro Woche ist auch unser Büro geöffnet. Wir machen reihum Dienst, ehrenamtlich, versteht sich. Sie, liebe Marianne, meinen vielleicht, es könne bei uns nicht viel zu tun geben? Es gibt zu tun. Wir Schlesier waren  lange genug  bei den Preußen, um zu  wissen, wie man sich zu tun macht: Wir verteilen unsere Einnahmen auf die einzelnen Ressorts, außerordentlich heikel und zeitraubend; wir schreiben Einladungen für unsere Veranstaltungen; wir pflegen Briefwechsel mit anderen hiesigen "Minderheiten"  und vor allen auch mit denjenigen von uns, die nach Deutschland gegangen  und  somit aus dem Zustand der Minderheit in den  der Mehrheit übergewechselt sind. Ich sage 'Mehrheit', denn die Polen sind ja nun schon in solchen Mengen ins verhaßte Land der Dummen und Stummen eingeströmt, daß von einer deutschen Gesamtheit nicht mehr gesprochen werden kann."

 

"Josef", sagt Robert, "kannst du dich als Vertreter der hiesigen mehrheitlichen Minderheit nicht einmal mehrheitlich verständlich ausdrücken? Was  soll denn Marianne denken?"

 

"Marianne denkt genau das, was sie denken soll. Wir beide haben ja schon geklärt, wie man hierzulande 'Verständlichkeit' betreibt."

 

Seine Augen lächeln weiter, unberührt von allen Bedrängnissen der Zeit.

 

"Das beste ist unsere Bibliothek", sagt Erika. "Es hat vor dem Kriege schon einmal eine Leihbibliothek in Jagnitz gegeben. Die jetzige ist größer. Das Auspacken und Einordnen der Bücher, die aus Deutschland kommen, dauert oft Tage. Wir hören ja selten etwas von eurer Bundesregierung, meist nur Absagen und Anweisungen zum Stillehalten. Mit Büchern aber deckt sie uns überreichlich ein, so, als wolle sie uns nach unserer Wiedergeburt als Deutsche von innen her ganz neu aufbauen."

 

Die neuen Bücher sind nach Themen geordnet. Unter 'Geschichte' finde ich:

 

Gerd Klaus Oschatz, Der Widerstand im Nationalsozialismus,

Joachim Hoppenheim, Adolf Hitlers Weg in den Krieg,

Sebastian Sonntag, Das Judentum in Breslau.

 

Unter 'Philosophie' ist folgendes aufgestellt worden:

 

Sabine Schargässer - Schneuzer, Die philosophischen Grundlagen einer multiethnischen Gesellschaftsform.

Karl Heinz Zubringer, Studien zur Überwindung der Nation.

 

"Lest ihr so was?" frage ich.

 

Erika wird  verlegen. "Sie wissen doch, wie es bei uns ist.  Obwohl wir Älteren deutsch lesen können, fehlt uns die Zeit. Die Jüngeren von uns könnten all die Bücher gar nicht lesen, auch, wenn sie die Zeit dazu hätten. Aber es ist doch so schön, die deutschen Wörter auf dem guten, teuren Papier anzusehen. Und die vielen schönen Bilder."

 

"Habt ihr auch etwas von Gustav Freytag?" frage ich.

 

"Ein polnischer Lehrer wollte uns einmal alle Bände von Gustav Freytag verkaufen. Er wollte aber zu viel Geld dafür haben. Wir konnten es nicht bezahlen. Schade."

 

"Bitte nicht darüber nachgrübeln, wie dieser polnische Lehrer wohl in den Besitz von Gustav Freytags 'Gesammelten Werken' gekommen ist", sagt Josef, "Solche Grübeleien könnten ausnahmsweise einmal zu sehr verständlichen Ergebnissen führen."

 

"Aber Eichendorff haben wir", fährt Robert fort, "und da kommt schon hin und wieder mal jemand, um ein Gedicht von ihm zu lesen, so wie früher." Er sagt 'friher' und schaut dabei mit seinen brauen Augen irgendwohin.

 

"Hier ist er, unser Eichendorff." Erika zeigt auf ein Bild des Dichters an der Wand.

 

"Und das ist Jagnitz, wie es einmal war. Auch das Haus unserer 'Minderheit' ist zu sehen. Es war damals eine Kohlenhandlung."

 

Inzwischen hat sich der Versammlungsraum der ehemaligen Kohlenhandlung von Jagnitz gefüllt. Die Tische sind gedeckt, Kuchentürme und Kaffeekannen bereitgestellt. Erwartung steht in den Gesichtern ringsum. Hier und da zeigt sich eine freundlich arglose Verschmitztheit. Noch hat die Mahlzeit nicht begonnen.

 

Was einmal war, das ist für immer. Ist es so? Und es kann jederzeit wieder eine neue Gestalt annehmen.

 

"Willkommen in Schlesien", sagt jemand. Es ist Stephan, der Besitzer der neuen Fenster und des rosa Badezimmers. Reihum muß ich derbe, feste Hände schütteln.

 

"Wir Schlesier backen gern. Und wir essen gern. Langen Sie zu!"

 

Wenn ich selbst auch nicht gern backe, so soll mir niemand nachsagen können, daß ich nicht gern esse. Ich lange zu.

 

Die Jagnitzer Minderheit hat heute Besuch.  Ein Vertreter der schlesischen Landsmannschaft - etwas schmaler, etwas besser gekleidet als die Hiesigen, aber dasselbe gutmütig bescheidene Gesicht - ist aus Westdeutschland gekommen, um Geschenke zu bringen: als Hauptgeschenk überreicht er einen Kopierer für den Deutschunterricht der  Kinder und fürs Büro. Die Freude des Gebenden und die Freude der Nehmenden, in Rede und Gegenrede ausgedrückt,  fließen zusammen zu einem verbindenden, den  Raum erfüllenden Glück.

 

"Das ist das schönste Geschenk, das ihr  uns machen konntet" ergreift Josef als Sprecher der Hiesigen das Wort.

 

"Dieses Geschenk wird uns  vor allem helfen, unsere allergrößte Sorge anzupacken, unsere Sorge für   unsere Kinder. Wenn wir auch in Zukunft Deutsche in Schlesien bleiben wollen", fährt er zu mir gewandt fort, " dann müssen wir unsere Kinder mit unserer Sprache neu verbinden. Erst dann können wir hier für alle sichtbar aus dem Zustand der 'Minderheit' wieder in den Zustand der 'Mehrheit' gelangen. Aber  Sie können sich denken, liebe Marianne, wie unser Weg dorthin von den Polen bestückt wird mit Minen und mit Fallgruben: Deutsche Kindergärten bräuchten wir. Diese aber werden erst eingerichtet, wenn die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen sind. Und die sind noch nicht geschaffen, sollen aber kommen. Deutsche Schulen, d.h., Schulen mit Unterrichtssprache: 'Deutsch' wird es erst geben, wenn genug Lehrer dafür  vorhanden sind. Die sind aber nicht vorhanden, weil sie hier nicht in genügender Zahl ausgebildet werden können. Und wenn einmal deutsche Lehrer aus der Bundesrepublik kommen, dann werden sie ins eigentliche Polen geschickt, um die polnischen Kinder zu belehren. Wir Schlesier sollten froh sein, heißt es dann, daß unsere Kinder wenigstens deutsch als Fremdsprache lernen können."

 

"Das Gute aber ist", fährt Erika fort, " unsere Kinder wollen deutsch lernen. Freiwillig kommen sie zu uns Älteren und fragen und fragen."

 

"Erika, erzähl doch, was du alles machst", ermuntert sie ihr Mann.

 

"Ja, wir haben in der 'Minderheit' eine Volkstanzgruppe. Zweimal im Jahr müssen wir zum Wettbewerb gegen andere Gruppen antreten. Die Kinder genießen es sehr."

 

"Auch ich bin beteiligt", sagt Robert. "Nicht selten ist morgens früh  4 Uhr die Nacht bei uns zu Ende, weil Mütterkolonnen anrücken zum Trachtenschneidern."

 

"Wenn wir nicht tanzen, spielen wir, deutsch natürlich:

'Wer kennt die meisten schlesischen Städtenamen?'

'Wer kann ein neues deutsches Gedicht am schnellsten auswendig lernen?'

'Wer weiß, wer Friedrich Barbarossa ist?'

'Wer hat den Namen: 'Friedrich der Große' schon einmal gehört?'

Es ist schon erstaunlich, wie selbstverständlich unsere Kinder das alles aufnehmen, so wie Pflanzen, die jetzt erst anfangen, die zu ihnen gehörende Nahrung aus dem Boden zu ziehen.

Immer wieder kommen auch  Lehrer freiwillig aus Deutschland zu uns, um mit unseren Kindern Ferienkurse in der deutschen Sprache zu veranstalten. Solche Lehrer kommen ohne bundesrepublikanischen Auftrag, ohne Lohn."

 

Die Kuchentürme sind nun abgetragen. Draußen hat sich die Sommerdämmerung über das schlesischen Land gelegt.

 

Die Gespräche versiegen. Die Schlesier in Jagnitz singen nun zum Abschluß ihre Lieder, welche sie noch vor gar nicht langer Zeit nur heimlich im Wald singen konnten.

Ich habe Mühe,  von dem, was mir aus diesen Liedern entgegenkommt, nicht überwältigt zu werden.

 

        Hohe Tannen weisen die Sterne

        an der Iser wildspringender Flut.

        Liegt  die Heimat auch in weiter Ferne,

        doch du Rübezahl hütest sie gut.

 

        Hast dich uns zu eigen gegeben,

        der die Sagen und Märchen erspinnt,

        und im tiefsten Waldesleben

        als ein Riese Gestalt annimmt.

 

        Komm zu uns an das lodernde Feuer,

        in die Berge bei stürmischer Nacht!

        Schirm die Zelte, die Heimat, die teure,

        komm und halte mit uns treue Wacht.

 

 

        Höre Rübezahl, was wir dir sagen,

        Volk und Heimat, die sind nicht mehr frei!

        Schwing die Keule wie in alten Tagen.       

        Schlage Hader und Zwietracht entzwei.

 

Und:

        Oberschlesien ist mein liebes Heimatland,

        wo vom Annaberg man schaut ins weite Land,

        wo die Menschen bleiben treu in schwerster Zeit,

        für dies Land zu leben bin ich stets bereit.

 

        Wo die Schalen sausen in den Schacht hinein,

        wo der rote Himmel glüht im Feierschein,

        wo die Häuser grau und hell die Herzen sind,

        dahin geht mein Sehnen, bis ich Ruhe find.

 

        Wo der Kumpel schaut dem Tod ins Angesicht,

        wo die Mädchen lieblich und die Frauen schlicht,

        wo an dunkler Halde steht mein Vaterhaus,

        da ist meine Heimat, da bin ich zu Haus.  

 

        Wo der Wind der weiten Wälder Wipfel wiegt,

        wo verträumt und einsam manches Schlößchen   

       liegt, 

        wo im Odertale liegt so manches Gut,

        Heimat, liebe Heimat, dir gehört mein Blut. 

 

 

Annaberg

 

Anreise

 

Zum Abschluß meines Aufenthaltes in Jagnitz fahren wir, Erika, Robert, Joseph und ich, in Roberts kleinem polnischen Auto zum Annaberg, dem heiligen Berge Oberschlesiens.

 

Grenzenlos erscheint das weite oberschlesische Land mit seinen geraden, schmalen Straßen. Wie in den Dorfstraßen  steht hier und da, still ergeben, altersgrau geworden, am Straßenrand ein Heiliger auf seinem Sockel oder in  seinem steinernen Gehäuse.

 

"Auf den Landstraßen haben manche dieser alten Bildstöcke ihre deutschen Aufschriften behalten. Hier hatte die Generalpolonisierung unseres Landes schon von Anbeginn an schadhafte Stellen. Die Polen laufen nicht gern, und nach dem Krieg hatten sie noch keine Autos", nimmt Joseph das Gespräch wieder auf.  "Deswegen waren immer wieder Schlesier hier zu finden, einfach, um  einmal irgendwo ein deutsches Wort  zu lesen. Wir Schlesier lebten ja so viel mehr von dem, was wir nicht hatten als von dem, was wir hatten."

 

"Das ist in Deutschland noch heute so", sage ich. "Die meisten Deutschen in Deutschland leben viel weniger von dem Deutschen, das sie haben, als von dem Nichtdeutschen, das sie nicht haben. Mit Inbrunst versuchen sie derzeit, ihre Sprache mit amerikanisch aufzuschmücken. That's life."

 

Haben meine Begleiter mich verstanden?

 

Die Sommerhitze, ohne Bewegung, sonnendurchglüht, steht über dem Land. An den Rändern der wenigen schütteren Felder wachsen Kornblumen, leuchtend kornblumenblaue Kornblumen, die es bei uns schon lange nicht mehr gibt. Hoch oben in der Luft, unberührt von allem, was über Schlesien hingegangen ist,  schwirren und jubeln die Lerchen.

 

Bald zeigt sich im fernen Dunst des Horizontes unser Reiseziel, eine langgestreckte, von zwei Kirchtürmen gekrönte Erhebung.

 

"Der Annaberg ist unser einziger Berg, der diese Bezeichnung verdient", sagt Robert.

 

"Der Annaberg ist unsere Mitte und unsere Zuflucht. Es ist der Ort, an dem sich unsere Gedanken finden. Es ist der Ort, der uns das Bild unseres Wesens zeigt. Einst war der Annaberg der Sitz der Götter, die zusammen mit unseren Vorfahren nach Oberschlesien gekommen sind. Später, als die alten Götter dem  dreieinigen Gotte samt seinen Heiligen weichen mußten..."

 

"Oder, anders gesagt: Als die alten Götter einfach nur ihre Namen änderten," wirft Josef, ohne sich um die irritierten Mienen seiner Begleiter zu kümmern, mit unbewegter Miene ein.

 

"Später also", beharrt Robert auf der Weiterführung seines Satzes, "später stand hier eine Wallfahrtskirche, gewidmet der heiligen Anna."

 

"Weiß denn unser junger Besuch, wer die heilige Anna ist?" fragt Joseph, und es ist nun an mir, irritiert zu schauen.

 

"Anna", erklärt Joseph, "ist die Großmutter des Gottessohnes, welche durch dessen Dauerpräsens  an seiner Heiligkeit und  Heilkraft Anteil hat. Anna beschützt die Bergleute und  die Armen. Anna ist somit die Schutzheilige Oberschlesiens.

Im 17. Jahrhundert hat sich auf dem nun 'Annaberg' geheißenen Götterberge auch ein Franziskanerkloster eingestellt, welches mit der Zähigkeit  derartiger Einrichtungen sämtlichen Vertreibungsversuchen widerstand. Weder Napoleon noch Bismarck noch Adolf Hitler haben die frommen Brüder auf Dauer vom Berge verjagen können. Wie Kräuter nach dem auf eine Dürrezeit folgenden  Regen stellten  sich jene nach Besserung der Umstände sogleich wieder ein. Zu sehr verlangte nach ihnen die oberschlesische Seele.

Nach 1945 jedoch erschienen   die Mönche in neuer Gestalt: Sie waren allesamt polnisch geworden. Und unsere Anna schien uns Miene zu machen, sich um die oberschlesische Seele, welche sie einst hierhergebracht hatte, nicht mehr zu bekümmern."

 

"Nein, nein, nein!" Der Nachdruck in Erikas Stimme läßt keinen Widerspruch zu. "Die heilige Anna ist die unsere geblieben, mögen die Mönche hier sein, was sie wollen.  Auf dem Annaberg fand im Jahre der Wende der erste deutsche Gottesdienst statt nach nunmehr 44 Jahren.  Der ganze Berg war  von uns Schlesiern bedeckt,  von Schlesiern, die nach einem Menschenalter des Schweigens wieder das sein durften, was sie sind: Deutsche. Als wir damals  zu Tausenden unser deutsches Annalied sangen, gab es wohl keinen, dem nicht die Tränen gekommen sind. Fast niemand von uns hatte geglaubt,  unser deutsches 'Morgenrot' noch mit Augen zu schauen. Es war der schönste Tag meines Lebens."

 

"Unseres Lebens", verbessert Robert und zeigt mir das St. Annalied in einem  mitgebrachten deutsch - polnischen Gesangbuch.

 

"Dieser Vers ist der wichtigste. Hören Sie:

 

       Voll Mitleid und Erbarmen

       warst du für jedermann.

       Wie nahmst du dich der armen,

       verlaßnen Menschen an."

 

"Es ist ein einfaches Lied.  Es ist unser Lied", sagt Erika, und sieht mich an. Ich spüre den Abglanz ihrer damaligen Tränen in ihren blauen Augen. Ich höre das oberschlesische St. Annalied, von Tausenden gesungen in der östlich breiten, in der mir so entrückten und mich dennoch so vertraut anmutenden Sprache.

 

Der Heilige Berg

 

Mittlerweile sind wir am Fuße des Annaberges angekommen. Wir fahren  durch das Dorf Annaberg, welches sich mit seinen verstreuten Häusern den Berg hinaufzieht. Im oberen Teil des Dorfes verlassen wir das kleine Auto und steigen zu Fuß  den Berg hinan.

 

Laubwald nimmt uns auf, Eschen, Eichen und Linden, welche ihre Wipfel über schmale, ins Verborgenen führende Wege, über Kapellen, Kreuzesstationen und Marienbilder breiten. Mir ist es, als ob die alten Götter des Landes, gleichgültig gegen Umbenennungen, Verkleidungen und Verwandlungen, noch immer in den grünen, lichtdurchfunkelten Blättern wohnen, als ob es im Grunde noch immer die alten Götter sind, die den Kommenden Kühle, Gelassenheit und Mut spenden.

Dunkel und langgezogen rufen ringsum die Holztauben in den hohen Baumkronen.

 

Im Inneren der St. Annakirche  bleiben wir vor dem hölzernen Standbild der Schutzheiligen stehen:

Die schlichten Züge der Gottesgroßmutter sind von einem goldenen Tuch umgeben. Auf dem Kopf trägt sie, einer Tiara ähnlich, eine dunkelsilberne Krone. Ihr Körper ist eingehüllt von einem goldenen, mit allerlei Schmuckstücken behängtem Gewand, dessen Öffnung am Halse so weit ist, daß zwei kleine Köpfchen, das der Gottesmutter und das des Gottessohnes, herausschauen können. Auch die beiden Kleinen tragen entsprechende Kronen. Der göttliche Enkelsohn hält  eine Weltkugel in seiner winzigen, aus dem großmütterlichen Kleid herausschauenden  Hand.

Erika und Robert bekreuzigen sich und bewegen die Lippen.

 

"Die Heilige Anna ist zu sehr eine der unseren, als daß sie uns  je im Stich lassen könnte."

 

Wer von beiden hat es gesagt?

 

Ehrenmal

 

Dort, wo das Gestein des ca. 4oo m hohe Annaberges steil zur Ebene hin abfällt und den Blick freigibt in die Weite des Landes, dort, wo man sich nicht nur  aus der Enge des Raumes herausgehoben fühlt, sondern auch aus den Bedrängnissen der Zeit, dort steht,  aus grauen Quadern aufgetürmt, ein Mal.

 

Es ist ein polnisches Ehrenmal mit  grob gestalteten Flachreliefs an den Mauern: Symbole des Jahrhunderte alten Kampfes des polnischen Volkes gegen die Germanisierungsgefahr.

 

Auf einer, das Terrain des Ehrenmales gegen den Wald abgrenzenden Wand steht eine polnische Inschrift: "Von dieser polnischen Erde ging der Aufstand zur Befreiung Oberschlesiens aus", übersetzt Robert.

 

"Marianne, unsere Studierte, weiß sicher, welche polnische Erde  gesäubert worden ist von den sich dort widerrechtlich aufhaltenden Teutonen", sagt Joseph.

 

Nun,  im Niemandsland zwischen Wissen und Nichtwissen tastend, ist es abermals an mir,  irritiert zu schauen. Annaberg? Aufstand? Was klingt da an?

 

Joseph, glücklich über mein verräterisches Zögern, läßt sich zur weiteren Belehrung nicht lange bitten:

 

"Als nach dem I. Weltkrieg die Volksabstimmung in Oberschlesien zur maßlosen Enttäuschung der Polen für Deutschland ausgefallen war, wurden die nach ihrer Meinung Betrogenen  unter der freundlichen Duldung der Sieger einfach gewalttätig. Polnische Partisanenhaufen rotteten sich zusammen, zogen nach Oberschlesien und versuchten der zufrieden zuschauenden Welt einen Aufstand der gequält aufstöhnenden polnischen Volksseele vorzuexerzieren. Dieser Aufstand äußerte sich so, wie sich derartige Bewegungen in Polen immer zu äußern pflegen. Ich brauche nichts weiter zu sagen. Im besiegten Reich jedenfalls sah man in den Oberschlesiern damals noch Brüder, die man nicht gewillt war, in ihrer Wehrlosigkeit allein zu lassen. Obwohl vom verlorenen Kriege   erschöpft, fanden sich aus allen Reichsteilen Freiwillige zusammen, um für Oberschlesien zu kämpfen. Am 21. Mai 1921 wurden die Polen, welche sich auf dem Annaberg gesammelt  hatten, von den Deutschen geschlagen und vom Berge vertrieben. Ca. 50 junge Deutsche fielen. Wenn  Ostoberschlesien dennoch ohne alles Recht den Polen zufiel, der Annaberg blieb deutsch."

 

Ich nicke dankbar, um Joseph zur Fortsetzung seiner Rede zu ermuntern.

 

"Gleich nach der  Wende im Jahre 1933 wurde auf dem Annaberg eine  Jugendherberge, die modernste des Reiches, gebaut, um unseren Heiligen Berg auch der Jugend  nahe zu bringen. Ein Ehrenmal  für die hier Gefallenen folgte, gedacht als eine Stätte nationaler Besinnung. Das hieß in der damaligen Zeit: Den Göttern des Berges, genauer: den Kräften der Erde, der Bäume, des Windes sollten die christlichen Verkleidungen genommen und  ihre alten Namen zurück gegeben werden. Ich habe als Junge an der   Einweihungsfeier des Ehrenmals teilgenommen. Es war für mich  ein ergreifendes Erlebnis."

 

"Wenig später aber wurden die Mönche wieder einmal vom Berge vertrieben", ergänzt Robert.

"Wir Oberschlesier waren über die Wendung der Dinge nicht durchweg erfreut. Die Verkleidung der alten Götter hat sich doch so tief mit unserem  Wesen  verwoben, daß wir damals mit den unverkleideten Göttern  nicht allzuviel anzufangen wußten. Die derzeit so Begeisterten waren  mehr die aus den übrigen Gegenden des Reiches."

 

"Wie dem auch sei", antwortet Joseph, "wer könnte schon alle Deutschen jemals unter den sogenannten einen Hut bringen. 1945 jedenfalls, als den mitsiegenden Polen der Annaberg nun  kampflos zugefallen war, haben sie sogleich das deutsche Ehrenmal zerschlagen und aus seinen Trümmern zur moralischen Festigung ihrer Beute ein Mal zur eigenen Ehre erbaut. Dieses ist dem ehemaligen deutschen  nun aber so ähnlich geworden, daß man das deutsche unter Veränderung der Inschriften eigentlich auch hätte stehen lassen können. Man hätte denjenigen, die vielleicht einmal an dieser Stelle wieder etwas Deutsches bauen werden, viel Arbeit erspart."

 

Dann bleiben die Freunde lange stumm, schauen in die Ferne und suchen in dem unter ihnen liegenden Land vielleicht nach den Lerchen,  nach den deutschen Bildstöcken oder nach den Kornblumen, die es im Westen nicht mehr gibt.

 

"Wie wird es nun weitergehen mit Oberschlesien, mit Schlesien?" frage ich. "Wird hier jemals  wieder ein deutsches Denkmal stehen?"

 

"Wer, liebe Marianne, wollte das mit Gewißheit sagen." Joseph, der Vorstand der deutschen 'Minderheit' im oberschlesischen Jagnitz, spricht ernster als sonst.

 

"Schaut man  allein in unsere Gegenwart, kann man eigentlich nur zu dem Schluß kommen: Schlesien wird nie mehr das werden, was es einmal war. Fast niemand in der den Deutschen noch immer so feindlich gesonnenen Welt möchte Deutschland um sein altes Ostdeutschland vergrößert sehen. Und den hier hereingeschwemmten Polen schmeckt das Unrecht zu süß, als daß sie je die Größe aufbringen könnten, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Und die Deutschen selbst? Sie wissen es ja, liebe Marianne: Die Deutschen haben sich in den letzten Jahrzehnten mehrheitlich von Besiegten zu Mitsiegern über sich selbst gemausert. Sie tun nun freiwillig das, was die Polen im polnisch gewordenen Ostoberschlesien nach dem I. Weltkrieg noch vergeblich von ihnen verlangten: '...mitfeiern, Geld spenden, trotz ihres eigenen Unglücks triumphieren.' Erinnern Sie sich?"

 

"Die Deutschen sind starr geworden und leer", sage ich, "starr und leer  wie das verlassene schlesische Land. Die Deutschen fühlen keinen Schmerz. Noch nicht."

 

"Nein, noch nicht", antwortet Joseph. " Aber das, was jetzt ist, bleibt nicht. Die Zeit hat immer das Bestreben, Erstarrtes zu lösen, Leere  zu füllen,  Schmerzen fühlbar zu machen und sie zu heilen."

 

"Und das Lebendige, das einmal war, das ist für immer", sage ich. "Ich weiß es, seit ich in Schlesien bin. Ich habe es gespürt. Schlesien, wie es war,  kann jederzeit wieder Gestalt annehmen."

 

"Wir Schlesier sind ein geduldiges Volk", sagt Josef. "Wir verstehen es zu warten. Und auf unserer Seite sind unsere Götter, unsere Toten und das Recht."

 

 zurück zur Startseite